«Aktien wegen eines diffusen Unwohlseins zu verkaufen, wäre töricht»

16.09.2022
Herr Masarwah, haben die Märkte Sie in diesem Jahr auch in tiefe Depressionen gestürzt?
Nein, warum, ist etwas passiert? Im Ernst: Mir persönlich geht es sehr gut damit, dass die Märkte endlich einmal realistisch das einpreisen, was um uns herum geschieht. Es ist Krieg in Europa, die Inflation schiesst wegen der steigenden Energiepreise in die Höhe, die Notenbanken ziehen die Handbremse an, da wäre es ja schlimm, wenn die Märkte nicht endlich in den Risk-off-Modus wechseln würden. Märkte sind von einem ständigen Auf und Ab gekennzeichnet, und nach eine jahrelangen Auf, kommt jetzt das Ab.
Aber dass alles, aber wirklich alles verliert, Aktien, Anleihen, Immobilien, Gold, Kryptos, ist doch bemerkenswert.
Ja, einerseits schon. Dass alles fällt, setzt auch die solidesten, sehr breit aufgestellten Portfolios unter Druck. Aber wer eine Finanzkrise miterlebt hat, weiss, dass Diversifikation punktuell auch einmal keinen Mehrwert bringt. Dummerweise dann, wenn man sie am dringendsten bräuchte. Aber wenn die Zinsmärkte und die Realwirtschaft unter Druck kommen, kann es zu einem Re-Rating von Asset-Preisen kommen. Das zeigt mir, dass wir uns in einer ausserordentlichen Situation befinden. Was es mir nicht zeigt: Dass ich als Investor jetzt handeln muss. Das sollte ich nur dann, wenn sich meine persönlichen finanziellen Verhältnisse ändern, oder wenn mein Portfolio wegen falscher Investmententscheidungen aus dem Lot kommt. Aber auf ein diffuses Unwohlsein wegen eines hohen Tages- oder Wochen- oder Monatsverlusts Aktien zu verkaufen, wäre töricht.
Der Profi rät also: Nichts tun!
Absolut. Ich sollte nur dann handeln, wenn ich etwas mit meinem Handeln bewirken kann. Und wann kann ich das schon? Aber man muss Anlegern schon Mut zusprechen in so einer Lage: Krisen dauern nicht ewig. Auch wenn ich nicht glaube, dass wir das Tal schon durchschritten haben, sollten Anleger immer auch nach Chancen suchen. Das ist nicht nur lohnenswert, sondern auch psychologisch wichtig. Damit nehmen sie das Heft des Handelns wieder in die eigene Hand und kommen aus der Objekt-, also der Opferrolle raus. Die Märkte machen nicht mehr ihr Portfolio kaputt, sondern sie schlagen mit antizyklischen Investments den Märkten ein Schnippchen! Das ist nämlich der grosse Vorteil von Privatanlegern - wenn Profis wegen kurzfristiger Zwänge verkaufen müssen, können sich Privatanleger oft eine «long view» leisten.
Aber bei Aktien wird es doch noch weiter runter gehen, wenn die Konjunktur abstürzt?
Möglich. Aber keiner weiss, wie lange und wie tief. Dabeibleiben ist besser, als taktisch hin und her zu traden. Temporäre Verluste sind für die meisten Anleger kein Drama. Wer noch jung ist, hat Zeit zu investieren, und wenn er Geld hat, dann sollte er es besser heute als morgen investieren. In Zeiten wie heute wird der Grundstein zum Vermögen gelegt, nicht dann, wenn die Märkte auf langjährigen Hochs sind. Mich ärgert es, dass so viele Anleger auf die alarmistischen Marktmeldungen hin sich offenbar beeindrucken lassen. Als der US-Markt diese Woche an einem Tag um 4 bis 5 Prozent verloren hat, war es am nächsten Tag auf Twitter besonders schlimm - da flogen einem die Grafiken mit den blutroten Kacheln regelrecht um die Ohren. Ja, dass manche Indizes 20, oder von mir aus auch 30 Prozent in diesem Jahr verloren haben, klingt dramatisch. Aber das betrifft doch nur diejenigen, die Anfang Januar angefangen haben, zu investieren. Wer länger dabei ist, wird noch komfortabel im Plus sein. Das bringt mich zum Punkt: Stichtagsbezogene Performance-Betrachtungen nerven!
Also das TV ausschalten und das Smartphone wegpacken?
Das ist gar keine schlechte Idee. Was bringt uns die Information, dass der Nasdaq Index heute fünf Prozent verloren hat? Die Störgeräusche des Marktes auszublenden, ist ein gutes Mittel, um sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Wenn Sie sich die Performance über längere Zeiträume in den vergangenen 50 Jahren anschauen, dann werden Sie sehen, dass es fast schon ein Kunststück war, langfristig mit Aktien Geld zu verlieren. Seit 1972 haben Aktien in den USA und Europa nominal in keiner Periode, die länger war als 13 Jahre, verloren. Legen wir wegen der Gebühren von Fonds oder Handelskosten von Aktien noch 1 oder 2 Jahre drauf, dann lautet die Botschaft immer noch: Kaufen Sie Aktien und Sie werden mit ziemlicher Sicherheit nach 15 Jahren kein Minus gemacht haben. Junge Investoren haben noch locker 30 Jahre Investmentzeit vor sich. Das ist doch eine gute Botschaft, oder?
Link zum Disclaimer
Ali Masarwah ist Fondsanalyst und Partner bei der konzernunabhängigen digitalen Fondsplattform Envestor. Zu den Kerndienstleistungen von envestor.de zählt, Privatanlegern einen sehr günstigen Zugang zu Fonds zu eröffnen. Investoren, die keine Beratung brauchen, erhalten einen Grossteil der laufenden Vertriebsgebühren zurück. Auch anlegernahes Research zählt zum Angebot von envestor.de. Ali Masarwah zählt zu den langjährigen Kennern des deutschen und europäischen Fondsmarkts. Bis Frühjahr 2021 war er im Fondsresearch bei Morningstar tätig und als Chefredaktor für die deutschsprachigen Personal-Finance-Websites des US-Research-Hauses verantwortlich. Nach seinem Volontariat bei der Wirtschaftsnachrichtenagentur ADX in Berlin Ende der 1990er-Jahre fand der Sozialwissenschaftler zügig den Zugang zum Thema Investmentfonds. Im Jahr 2000 wurde er Mitglied der Fondsredaktion bei der damaligen Nachrichtenagentur vwd, die er von 2001 bis 2003 leitete. 2003 wechselte Ali Masarwah zur portfolio Verlagsgesellschaft, Frankfurt. Danach verantwortete er bei Morningstar zwischen 2011 und 2021 die Personal-Finance-Websites für die deutschsprachigen Länder.