«Anleger hin- und hergerissen zwischen Risikoaversion und Renditezwang»

04.08.2014
Herr Masarwah, Sie zählen zu den besten Kennern des europäischen Fondsmarktes. Gibt es ein «business as usual» oder erkennen Sie neue Strömungen?
Der europäische Fondsmarkt ist derzeit wohl wie nie zuvor geprägt von der Hin- und Hergerissenheit der Investoren. Sie sind einerseits risikoavers und scheuen ein Engagement in Aktien. Auf der anderen Seite sehen sie sehr wohl, dass sie mit risikoarmen Investments wie Bundesanleihen nicht weit kommen werden. Das alles ist eine Folge der Verzerrung der Zinsmärkte und dem Nahe-Null-Ertrag von sicheren Staatsanleihen, die in der Vergangenheit auch für risikoscheue Investoren auskömmliche Erträge geliefert haben. Das hat die absurde Situation zur Folge, dass man in Europa keine Rotation der Portfolios von Aktien in Rentenpapiere gesehen hat, aber dafür die Risiken auf der Zinsseite immer stärker ausgeprägt sind.
Wie äussert sich das Phänomen, das Sie oben beschrieben haben?
Vor allem in einer immensen Nachfrage nach Produkten, die ein asymmetrisches Rendite-Risiko-Profil versprechen. Anleger streben eine rechtsschiefe Renditeverteilung an, sie hoffen also, überdurchschnittliche Renditen zu einem möglichst geringen Risiko erzielen zu können. Zumindest aber sollen extreme Verluste vermieden werden.
Genauer, bitte!
Zum einen ist die Nachfrage nach Asset-Allocation-Produkten auf einem absoluten Rekordniveau. So wurden im Juni europaweit die höchsten, jemals in einem Monat gemessenen Mittelzuflüsse in gemischte Publikumsfonds verzeichnet. Anleger delegieren also die Verantwortung für den richtigen Asset-Mix an ihren Vermögensverwalter und hoffen, dass es gut geht. Bei Privatanlegern wäre das nicht einmal spektakulär. Interessant ist, dass zunehmend auch institutionelle Investoren solche Produkte nachfragen, die klassischerweise nicht in den Portfolios von Profi-Investoren vertreten sind. Aktive Manager, die häufig den Aktien-Bond-Mix in den von ihnen gemanagten Fonds oder Portfolios verändern, lassen sich eigentlich nicht in die Portfolio-Struktur von institutionellen Anlegern einfügen, werden aber offenbar unter dem Absolute-Return-Gedanken zunehmend berücksichtigt.
Wenn Sie von immer stärkeren Risiken auf der Zinsseite sprechen, dann klingt das aber nicht nach einem konservativen Investment-Stil.
Nennen wir es Verzweiflung. Anleger, vor allem institutionelle Investoren, wie etwa Versicherungen und Versorgungskassen, sind verpflichtet, gewisse Renditen darzustellen. Das manifestiert sich in einer hohen Nachfrage nach Hochzinsanleihen, die heute aber auch nicht mehr adäquate Renditen abwerfen. Im zweiten Quartal haben wir auch wieder eine sehr beeindruckende Rückkehr von Anleihen aus den Schwellenländern gesehen. Nachdem diese Papiere im vergangenen Jahr massive Verluste eingefahren haben, werden sie jetzt wieder gesucht. Zugleich werden die Laufzeiten auf der Bond-Seite tendenziell immer länger, was natürlich ein steigendes Zinsänderungsrisiko mit sich bringt. Das könnte man unter dem Schlagwort Anlagenotstand subsummieren.
Spielen die immer höher regulatorischen Einflüsse dabei eine Rolle?
Bei institutionellen Investoren auf jeden Fall. Aktienrisiken müssen bei Versicherungen und Altersvorsorgeeinrichtungen mit einer relativ hohen Eigenkapitalquote unterlegt werden. Das erklärt zum grossen Teil die hohe Nachfrage nach Euro-Peripherieanleihen, die einen Schnaps mehr Rendite versprechen als Bundesanleihen sowie Wandelanleihen, die entsprechend den neuen Solvabilitätsrichtlinien als weniger riskant als Aktien behandelt werden.
Alternative Investments stehen für aktives Management. Wie sehen Sie den Einfluss der ETFs?
Das ist ein sehr interessantes Phänomen. ETFs und andere Indexfonds werden in den Plain-Vanilla-Aktien- und Rentenkategorien zunehmend nachgefragt. Immer mehr Investoren bzw. auch Wealth Manager, die Portfolios von vermögenden Kunden betreuen, ersetzen in den klassischen Segmenten aktive Manager mit Index-Investments. Günstige, klar strukturierte Assets sind hier gefragt. Das dürfte zunehmend die vielen semi-aktiven Manager, die hohe Gebühren für bestenfalls indexkonforme Renditen liefern, unter Druck setzen. Auf der anderen Seite werden immer mehr Manager profitieren, die in der Lage sind, eine gute Leistung bei Asset-Allocation-Produkten zu liefern. Auch erfolgreiche Manager von alternativen Investments werden profitieren. Dazu zählen auch Total- bzw. Absolute-Return-Mandate auf der Bond-Seite, die Long-short- und vor allem Absicherungsstrategien verfolgen, die das Durationsrisiko minimieren. Für derartige Leistungen sind Kunden sehr wohl bereit, höhere Gebühren in Kauf zu nehmen. Hier haben ETFs keine Chance. Deshalb sind ETFs und sehr aktive Manager ja auch von der Idee her komplementäre Bausteine für Anleger.
Wie agiert Morningstar mit diesen Herausforderungen?
Wir verstärken unsere Analysekompetenz sowohl auf der passiven Seite als auch für Asset-Allocation-Produkte sowie alternative Investments. Hier haben wir unsere Coverage-Liste deutlich ausgebaut, und Investoren werden immer mehr qualitatives Research vorfinden, das ihnen bei der Manager-Due-Diligence hilft. Hinzu kommen spezielle Dienstleistungen für Versicherungen und andere VAG-Investoren, die im Rahmen von Solvency II eine 100-Prozent-Durchsicht in die Fonds brauchen, in die sie investieren. Hier kommen oft unsere Tools ins Spiel, mit denen gerade das möglich ist. Hinzu kommt, dass unsere Consulting-Sparte, Morningstar Investment Management, institutionelle Investoren bei der Asset-Allocation und auch bei der Managerselektion und Portfoliokonstruktion im Rahmen klassischer Mandatslösungen unterstützt.
Ali Masarwah ist Mitglied im europäischen Research-Team von Morningstar und als Chefredaktor für die deutschsprachigen Websites von Morningstar verantwortlich. Nach seinem Volontariat bei der Wirtschaftsnachrichtenagentur ADX in Berlin fand er recht zügig den Zugang zum Thema Investmentfonds. Im Jahr 2000 wurde er Mitglied der Fondsredaktion bei der Nachrichtenagentur vwd, die er von 2001 bis 2003 leitete. 2003 wechselte Ali Masarwah zur portfolio Verlagsgesellschaft, Frankfurt, wo er zunächst als Chefredaktor das Magazin «portfolio international» übernahm. Von 2006 bis zu seinem Wechsel zu Morningstar im Herbst 2011 hatte er zusätzlich als Redaktionsleiter die journalistische Verantwortung für alle Magazine und Websites des Verlags inne.