«Anleger investieren in schwierigen Zeiten lieber in ETFs als in aktiv gemanagte Produkte»

06.01.2023
Herr Glow, wie bewerten Sie das Fondsjahr 2022?
Das Jahr 2022 war insgesamt betrachtet ein schwieriges Jahr für die Investoren und die Fondsindustrie. In diesem Umfeld war es nicht verwunderlich, dass die europäische Investmentindustrie insgesamt Mittelabflüsse hinnehmen musste.
Aufgrund der Entwicklungen an den Märkten war es nicht überraschend, dass Multi-Asset-Fonds Mittelzuflüsse verzeichneten, während Aktien- und Anleihenfonds Mittelabflüsse hinnehmen mussten. Dabei war es interessant zu beobachten, dass sowohl im Segment der Aktien- wie auch im Segment der Anleihenfonds die entsprechenden ETFs Mittelzuflüsse verzeichneten, während aktiv gemanagte Fonds Mittelabflüsse hinnehmen mussten.
Dass Anleger in schwierigen Zeiten lieber in ETFs investieren als in aktiv gemanagte Produkte, erscheint auf den ersten Blick unlogisch, ist aber ein Trend, den wir seit dem Jahr 2008 beobachten.
Als Marktbeobachter war es zudem beeindruckend zu sehen, wie allein die Ankündigung von nicht klar gegenfinanzierten Steuererleichterungen in einem vergleichbar kleinen Umfang die Märkte erschüttern können. Denn schliesslich hat die Ankündigung des sogenannten «Mini-Budget» nicht nur die britische Regierung in eine Krise gestürzt, sondern gleichzeitig auch ein Beben bei Pensionsfonds, die mit einem LDI-Ansatz verwaltet werden, ausgelöst.
Haben Sie weitere Trends im europäischen Fondsmarkt beobachtet?
Ich glaube, man kann nicht über die Trends in der europäischen Fondsindustrie im Jahr 2022 schreiben, ohne über den Bereich der nachhaltigen Anlageprodukte zu sprechen. In den ersten drei Quartalen zeichnete sich im Bereich der ESG orientierten Anlageprodukte ein Trend ab, der so wohl nicht erwartet worden war. Im Zuge der anhaltenden Diskussionen um vermeintliches «Greenwashing» bei Fonds, die sich selbst nach Artikel 8 der Offenlegungsverordnung (SFDR) eingestuft hatten, führte dazu, dass die Anleger Gelder aus diesen Fonds abzogen und diese nicht in vollem Umfang wieder reinvestierten.
Im vierten Quartal hat die Veröffentlichung der «regulatorischen Umsetzungsstandards» für die Reporting- und Klassifizierungsanforderungen nach den ESG-Richtlinien durch die European Securities and Markets Authority (ESMA) dann dazu geführt, dass viele nachhaltige Fonds von Artikel 8 der Offenlegungsverordnung auf Artikel 6 beziehungsweise von Artikel 9 auf Artikel 8 zurückgestuft wurden. Die aussergewöhnlich hohe Zahl der Reklassifizierungen ist darauf zurückzuführen, dass die regulatorischen Anforderungen für Fonds unter Artikel 8 und 9 der Offenlegungsverordnung deutlich strenger ausgefallen sind, als dies von den Produktanbietern erwartet wurde. Die Folgen für die verwalteten Vermögen von Fonds, die zurückgestuft wurden, sind derzeit noch nicht voll abzusehen. Im Bereich der nachhaltigen Fonds ist davon auszugehen, dass diese auf ihren Wachstumspfad zurückkehren werden, sobald sich die Wogen durch die Einführung der «regulatorischen Umsetzungsstandards» geglättet haben und die Anleger so Klarheit über die Einordnung der Fonds nach SFDR bekommen.
Anleihenfonds haben in der jüngsten Vergangenheit schwer gelitten, sieht es nun wieder besser aus?
Wie sagt man so schön, steigende Zinsen sind Gift für die Preise von Anleihen. Dieser Grundsatz wird auch 2023 gelten, denn die Zentralbanken dürften auch im Jahr 2023 ihren Kampf gegen die Inflation fortsetzen und die Zinsen weiter erhöhen sowie die Liquidität weiter einschränken. Dieses sogenannte Quantitative Tightening wird sich weiterhin negativ auf die Entwicklungen an den Rentenmärkten auswirken. Eine Vorhersage, wie sich die einzelnen Schritte auf die Rentenmärkte auswirken werden, ist allerdings schwierig, da die Notenbanken mit ihren Massnahmen, nach dem zuvor umfangreichen «Quantitative Easing», Neuland betreten. Wie schnell eine fiskal- oder notenbankpolitische Entscheidung die Märkte in Unruhe versetzen kann, hat die Ankündigung des «Mini-Budget» in England gezeigt. Das heisst aber nicht, dass Anleger im Jahr 2023 mit Anleihen kein Geld verdienen können. Allerdings müssen die Anleger bei der Umsetzung ihrer Strategien sehr dezidiert vorgehen, um einzelne Anleihen zu identifizieren, die Chancen auf Kursgewinne bieten. Dementsprechned sollten Investoren bei Anleihenfonds im Jahr 2023 aus meiner Sicht auf aktives Management setzen.
Ein schwieriges Marktumfeld sollte Vorteile für aktive Manager bieten. Warum haben die Investoren in 2022 Geld aus aktiv gemanagten Fonds abgezogen, während sich ETFs über Mittelzuflüsse erfreuen konnten?
Da haben Sie recht. Allerdings haben aktiv gemanagte Fonds während der letzten Krisen im Durchschnitt eine Wertentwicklung abgeliefert, die unter der Wertentwicklung ihrer Benchmark lag und konnten so die Erwartungen der Anleger nicht erfüllen. Dies war - wie erste Auswertungen zeigen - auch im Jahr 2022 der Fall.
Ich glaube, dass die relative Wertentwicklung im Vergleich zur Benchmark nur ein Teil im Entscheidungsprozess der Investoren ist. Aus meiner Sicht sind die Vorteile der ETFs im Vergleich zu nicht börsengehandelten Indexfonds der Treiber für den Erfolg von passiven Anlageprodukten bei negativen oder stark schwankenden Märkten.
Welche Vorteile meinen Sie hier im Detail?
Zum einen ist hier die Transparenz zu nennen. Gerade in schwierigen Zeiten wollen Investoren möglichst genau wissen, in welche Titel sie investiert sind. Klassische Investmentfonds bieten hier oftmals nur eine eingeschränkte Transparenz, während ETFs ihre Positionen täglich aktuell veröffentlichen.
Der zweite wichtige Vorteil von ETFs im Vergleich zu Investmentfonds ist die Flexibilität der ETFs, denn schliesslich können Investoren ETFs zu jedem Zeitpunkt an der Börse kaufen und gegebenenfalls auch kurzfristig wieder verkaufen und müssen keine Orderzeitpunkte beachten. Zudem wissen die Investoren bei einer Börsentransaktion sofort, zu welchem Preis die entsprechenden Fondsanteile ge- beziehungsweise verkauft wurden und müssen nicht wie Investmentfonds die Transaktionszeit von ein bis zwei Tagen abwarten, bevor sie genau wissen, was sie für die Fondsanteile gezahlt beziehungsweise bekommen haben, um die nächsten Transaktionen planen zu können.
Wie sieht Ihr Ausblick für das Jahr 2023 aus?
Da viele der Faktoren, die die Märkte im Jahr 2022 belastet haben, noch immer nicht gelöst sind, oder sich im Augenblick sogar wieder verschlechtern, gehe ich davon aus, dass zumindest die erste Jahreshälfte des Jahres 2023 für Investoren noch schwierig wird. Die zweite Jahreshälfte könnte dann zumindest an den Aktienmärkten positive Tendenzen zeigen. Den breiten Rentenmärkten steht meiner Ansicht nach ein zweites Jahr mit Kursverlusten bevor, da die Zentralbanken ihr Quantitative Tightening fortsetzen werden, um die Inflationsraten weiter zu senken.
In einem solchem Umfeld wird es für die europäische Fondsindustrie aus meiner Sicht schwierig, hohe Nettomittelzuflüsse zu erzielen. Dennoch könnte das Jahr 2023 insgesamt betrachtet ein positives Jahr für die Fondsbranche werden.
Link zum Disclaimer
Detlef Glow, MBA (UoW), begann im Jahr 2005 als Leiter der Fondsanalyse für Deutschland und Österreich bei Refinitiv Lipper. Anfang 2007 übernahm er die Leitung für die Regionen Zentral-, Nord- und Osteuropa. Seit Oktober 2010 ist Glow Leiter der Fondsanalyse von Lipper in Europa, dem Nahen Osten und Afrika (EMEA). Zuvor war er als Direktor Portfoliomanagement bei der Feri Wealth Management GmbH in Bad Homburg als Portfoliomanager für vermögende Privatkunden tätig. Seine Karriere begann Detlef Glow neun Jahre zuvor bei der tecis Holding AG in Hamburg, wo er zuletzt als Leiter der Fondsanalyse sowohl für das quantitative als auch das qualitative Fondsresearch der tecis Asset Management AG verantwortlich war.