«Anleger müssen die Zukunft neu überdenken»

30.10.2020
Herr Lustig, wie hat sich die Anlagewelt seit der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 verändert?
Seit dem Ausbruch der Krise sind geopolitische Herausforderungen in das Rampenlicht gerückt. Bedenklich ist, dass sie im Gegensatz zu anderen Investitionsrisiken nicht mit einer Ausgleichszahlung verbunden sind. Zudem haben sie oft ein binäres Ergebnis wie das Werfen von Münzen: gut oder schlecht. Und sie hängen von politischen Entscheidungen ab, die kaum zu prognostizieren sind: Fiskalisches Abkommen vs. kein Abkommen, Trump vs. Biden, US-China-Handelsabkommen vs. kein Abkommen.
Das Ereignis, das im Jahr 2020 die meiste Aufmerksamkeit erregt hat, ist der Virus. Gleichwohl sollten wir uns auf drei globale geopolitische Risiken konzentrieren, die möglicherweise von der Pandemie überschattet werden: Die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und China. Alles ist miteinander verbunden. Zusammengenommen verändern diese Risiken tiefgreifend die Investitionslandschaft.
Inwiefern stellt die Europäische Union ein Risiko dar?
Nach der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 wurde die EU drei Jahre später von der europäischen Schuldenkrise 2011 getroffen, gefolgt vom Brexit 2016 und dem Coronavirus in diesem Jahr. Da die Europäische Zentralbank (EZB) alles Nötige getan hat, um den europäischen Staatenverbund und ihre schwächeren Mitgliedstaaten zusammenzuhalten, ist der Geldpolitik die Munition ausgegangen. Keine grossen Bazookas mehr. Unterdessen sind die Leitzinsen in negatives Terrain gerutscht und die Bilanz der EZB ist auf dem Weg, 8 Billionen US-Dollar zu erreichen - verglichen mit weniger als 2 Billionen US-Dollar zu Beginn des Jahres 2008. Die Hoffnungen auf eine Normalisierung der Zinssätze sind zerschlagen. Da die unkonventionelle Geldpolitik konventionell geworden ist, geht nun der Staffelstab der Konjunkturmassnahmen auf die Regierungen über. Sie müssen sich zusammenschliessen und fiskalische Bazookas einsetzen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Das Risiko für Investoren besteht darin, dass die Märkte zwar von der Politik abhängig geworden sind, aber wenn die Politik an ihre Grenzen stösst, wird sie die globalen Finanzmärkte erschüttern und Schockwellen über die Aktien-, Anleihe- und Devisenmärkte verbreiten. Die extrem niedrigen Leitzinsen sind nicht nur das Ergebnis des Krisenmanagements, sondern auch das Ergebnis säkularer Kräfte. Die Überalterung der Bevölkerung, der Kampf gegen die Deflation, die wachsende Staatsverschuldung und eine ineffektive Geldpolitik sind Symptome der Japanisierung.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in den USA?
Die USA sind nach wie vor die globale Supermacht, die die Führung bei der Bekämpfung des Klimawandels übernehmen muss. Sie sind jedoch eine geteilte Nation, die sich von der Weltbühne entfernt hat. Die Präsidentschaftswahl im November folgt auf Jahre der Polarisierung in der amerikanischen Gesellschaft, da sich das Wohlstandsgefälle nach der globalen Finanzkrise vergrössert hat. Bei dieser Wahl geht es nicht nur um Trump vs. Biden, sondern auch um rechts vs. links, Konservatismus vs. Liberalismus und niedrigere Steuern vs. höhere Steuern.
Der amerikanische Kapitalismus muss sich möglicherweise an neue geopolitische und bevölkerungspolitische Realitäten anpassen. Es scheint, als ginge es bei dieser Wahl um die Seele Amerikas, sein System und sein Verhältnis zum Rest der Welt. Der Ausgang der Wahl wird in naher Zukunft fundamentale Auswirkungen haben: nicht nur auf die Märkte, sondern auch auf die Art und Weise, wie Amerika mit globalen Krisen und seinem Verhältnis zum Rest der Welt umgeht.
Sehen Sie einen zweiten Kalten Krieg zwischen China und den USA?
China ist zu einer aufstrebenden globalen Supermacht geworden und auf dem besten Weg, die US-Wirtschaft in diesem Jahrzehnt zu überholen. Es sieht so aus, dass Chinas Überwinden der Pandemie diesen Prozess beschleunigt hat. Während die USA ihren globalen Einfluss verringert haben, hat die Volksrepublik ihren Machtbereich ausgeweitet und ihre wirtschaftliche, kulturelle und militärische Stärke ausgebaut.
Während die USA und China ökonomisch voneinander abhängig sind, geht ihr Disput weit über den Handelsstreit hinaus. Es ist ein Wettlauf um die globale Führungsrolle, der wahrscheinlich zu Spannungen, Streitigkeiten und Unsicherheiten führen wird - eine Entwicklung, die die Finanzmärkte überhaupt nicht mögen.
Was ist vor diesem Hintergrund die wichtigste Schlussfolgerung für Anleger?
Das bedeutendste globale Risiko für institutionelle Anleger ist der Wandel. Die zunehmende Abhängigkeit von einer Politik mit abnehmender Schlagkraft, der Wandel in der US-Politik und das ungleiche globale Kräftegleichgewicht führen dazu, dass sich die Spielregeln ändern. Hinzu kommen demographische und technologische Disruptionen - mit dem Ergebnis, dass sich Anleger anpassen müssen, ohne einfach frühere Verhaltensweisen fortzuschreiben. Sie müssen die Zukunft neu überdenken.
Wie können sich Anleger gegen die von Ihnen aufgezeigten Risiken schützen?
Ich sehe drei Varianten: eine effiziente Diversifizierung, weltweite Investitionen und ein qualifiziertes aktives Management. Ersteres bedeutet, die Portfolios in zwei Gruppen aufzuteilen: Offensive und Verteidigung. Die Offensive umfasst Risikoanlagen wie Aktien, Hochzinsanleihen und dynamische aktive Strategien. Zur Verteidigung zählen Vermögenswerte, die zwar keine weit überdurchschnittlichen Renditen abwerfen, aber die Risiken streuen. Etwa qualitativ hochwertige Staatsanleihen mit langer Laufzeit, Sichere-Hafen-Währungen wie US-Dollar und Yen und defensive aktive Strategien. Die Rolle der Offensive besteht darin, Erträge zu erwirtschaften, während die Verteidigung immer präsent sein und schützen soll.
Weltweite Investitionen setzen voraus, dass Anleger extreme Verzerrungen im eigenen Land vermeiden und auch tatsächlich international investieren. Die meisten globalen geopolitischen Risiken sind in einigen Regionen stärker als anderswo. Disruptionen schaffen neben Risiken auch Opportunitäten. Durch globales Investieren können Investoren solche Gelegenheiten suchen, wo immer sie sich befinden.
Welchen Rat möchten Sie Investoren in diesen schwierigen Zeiten mit auf den Weg geben?
Geschicktes aktives Management ermöglicht nicht nur die Generierung von kostbarem Alpha, sondern es bedeutet auch das Einsetzen des gesunden Menschenverstands, um Portfolios durch die tückische Welt der geopolitischen Risiken zu navigieren. Da sich Anleger nicht auf die Vergangenheit stützen können, sollten sie sich die Zukunft mit Kompetenz und Sachverstand vorstellen.
Link zum Disclaimer
Yoram Lustig ist Head of Multi-Asset Solutions, EMEA im Bereich Multi-Asset und besitzt 17 Jahre Anlageerfahrung. Bevor er im Jahr 2017 zu T. Rowe Price kam, war er Head of Multi-Asset Investments UK bei AXA Investment Managers. Lustig graduierte in Jura an der Universität Tel Aviv und erwarb einen MBA an der London Business School. Darüber hinaus ist er Chartered Financial Analyst (CFA).