Den attraktivsten Aktienmärkten auf der Spur

25.06.2018
Herr Keimling, Sie suchen systematisch nach den aussichtsreichsten Aktienmärkten. Wo sehen Sie aktuell das grösste Potenzial?
Die alte Kaufmannsweisheit «Der Gewinn liegt im Einkauf» gilt auch an der Börse: attraktiv bewertete Aktienmärkte bieten langfristig deutlich mehr Steigerungspotenzial als hoch bewertete. Die Bewertungskennzahlen, welche in der Vergangenheit die grösste Aussagekraft hatten, schauen wir uns monatlich für 40 Aktienmärkte an. Aktuell sind viele grosse Märkte eher teuer, während zahlreiche kleinere Märkte preiswert erscheinen. Dies ist sicher nicht das beste Umfeld für benchmarknahe Strategien, wohl aber für aktive Investoren wie uns, die auch fernab der Benchmark investieren können.
Die grössten Unterbewertungen und damit Chancen sehen wir aktuell in den Emerging Markets, aber auch in etablierten europäischen und asiatischen Märkten wie Korea, Grossbritannien, Spanien oder Italien. Alle diese Länder enttäuschten in den letzten Jahren und zeigen entsprechendes Nachholpotenzial. Dem gegenüber mahnt die Bewertung nordamerikanischer Aktien zur Vorsicht: in der Vergangenheit wurden Aktien im Mittel mit einem zyklisch geglätteten Kurs-Gewinn-Verhältnis (Shiller-CAPE) von ca. 18 und einem Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV) von 1,8 bewertet. Aktuell notieren US-Aktien 60 bis 80 Prozent höher.
Mit welchen Renditen können Anleger folglich rechnen?
Historisch konnte man auf Basis des Shiller-CAPE und des Kurs-Buchwert-Verhältnisses relativ gute langfristige Renditeschätzungen für einzelne Aktienmärkte ableiten. Die beiden Indikatoren ergänzen sich gut, da die Kombination sowohl die Ertragskraft als auch den Substanzwert eines Marktes einbezieht. Die Emerging Markets werden beispielsweise aktuell mit einem Shiller-CAPE von 16,8 und einem KBV von 1,7 bewertet. In der Vergangenheit erzielten Anleger durchschnittlich jährliche Wertzuwächse von real 7 bis 8 Prozent über die folgenden 10 bis 15 Jahre, ähnlich sieht es in Europa aus. In attraktiven Einzelländern wie China oder Osteuropa mit KBV’s um 1 sind sogar noch deutlich höhere Renditen möglich. Auf das extrem hohe Shiller-CAPE von 30,4 und das KBV von 3,3 im US-Markt erzielten Investoren in den letzten Jahrzehnten dagegen langfristig enttäuschende Wertsteigerungen von durchschnittlich 3 Prozent, und dies bei einem beträchtlichen Rückschlagpotenzial.
Ist der Blick in die Vergangenheit im Angesicht neuer Technologien insbesondere im US-Markt nicht überholt?
Das glaube ich nicht. Seit 1881 brach das CAPE im US-Aktienmarkt lediglich viermal deutlich aus seiner gewohnten Bandbreite nach oben aus: 1901, 1928, 1966 und 1995. In all diesen Jahren wurden plausiblere Argumente angeführt, weshalb alte Bewertungsmassstäbe nicht mehr gelten sollten, zum Beispiel die Einführung der Massenproduktion, das Telefon, die Abkehr vom Goldstandard, das Computerzeitalter oder die Globalisierung. Im Rückblick erwiesen sich diese überzeugenden Argumente als wenig stichhaltig: Jedes dieser Jahre markierte bedeutende Höchststände des S&P 500 Index. Investoren, die in diese Überbewertungen investierten, verbuchten in der Regel über 10 bis 20 Jahre reale Kursverluste. Die heute genannten Argumente erscheinen mir im historischen Vergleich nicht plausibler als die in vergangenen Überbewertungsphasen angeführten. Bislang hat sich stets Templetons Ausspruch bewahrheitet: «The four most expensive words are: this time it’s different».
Würde eine Schwäche im US-Markt nicht auch andere Aktienmärkte hinunterziehen?
Die letzten zehn Jahre war die Signalwirkung des US-Marktes so stark, dass Anleger meinen, die Outperformance des US-Aktienmarktes wäre ein Naturgesetz. Aber das ist ein Irrtum. Einige Anleger dürfte es überraschen, dass der MSCI Europe Index seit Auflegung 1969 über nahezu alle Halteperioden bis zur Finanzkrise 2008 höhere Wertzuwächse als der amerikanische MSCI USA Index erzielte. Die überdurchschnittliche Wertentwicklung des US-Marktes im Gesamtzeitraum von 1969 bis 2018 resultiert damit allein aus den hohen Zuwächsen der letzten zehn Jahre.
Ein weiteres gern vergessenes Beispiel: In den achtziger Jahren hatte Japan die Rolle des Leitmarktes inne. Kaum ein Aktienmarkt entwickelte sich in dieser Dekade so stark wir der japanische, keine bedeutende Börse erholte sich - trotz massiver Überbewertung - schneller als Japan vom Crash 1987, und es herrschte ein breiter Konsens, dass das japanische Erfolgsmodell höhere Bewertungen rechtfertigt. Damals stellte Japan rund 40 Prozent im MSCI World Index, der Anteil Japans an der Weltwirtschaft betrug dagegen gerade einmal 15 Prozent. Ein Szenario, dass Japan längerfristig verlieren und andere Märkte - entgegen dem Leitmarkt - gleichzeitig steigen könnten, erschien unvorstellbar. Nach Jahrzehnten fallender Kurse hat sich in Japan sowohl die Überbewertung als auch die Diskrepanz zwischen Index- und GDP-Gewicht normalisiert. Argumente, dass Japan dauerhaft höhere Bewertungen rechtfertigt sind verstummt. Im US-Markt sehen wir aktuell ein ähnliches Bild: eine Dekade der Outperformance, eine hohe Bewertung, zahlreiche Rechtfertigungsversuche hierfür sowie eine zu Japan vergleichbare Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Aktienmarktes und der tatsächlichen Wirtschaftsleistung. Als langfristiger Investor würde ich meinen Schwerpunkt deshalb nicht im US-Markt setzen.
Und was können Anleger in Deutschland erwarten?
Langfristig sind jährliche Wertsteigerungen von 6 bis 7 Prozent realistisch, was einem DAX Index von ca. 27.000 Punkten in zehn Jahren entsprechen würde. Damit bieten deutsche Aktien auch im Vergleich zu anderen Anlageformen attraktives Potenzial. Auch die mittelfristigen Risiken sind grob kalkulierbar. Wir haben vor einigen Jahren untersucht, welche Renditen historisch mit welchen Wahrscheinlichkeiten zu einer zu damals vergleichbaren Bewertung folgten. Daraus lässt sich ein Szenario-Korridor ableiten, der die kurzfristigen Chancen und Risiken eines Aktienmarktes realistisch beschreibt. Wenn man sich den DAX-Verlauf seitdem ansieht, wird nicht nur deutlich, dass sich der deutsche Aktienmarkt die letzten Jahre völlig normal entwickelte, sondern auch, dass temporäre Rückschläge unter 10.000 Punkte sehr unwahrscheinlich sind und langfristige Investoren sehr optimistisch in die Zukunft schauen können.
Norbert Keimling leitet die Kapitalmarktforschung der StarCapital AG. Nach seinem Studium der Wirtschaftsinformatik startete er seine berufliche Laufbahn im quantitativen Research der AMB Generali in Köln. Seit 2004 ist er für die StarCapital in Oberursel tätig.