«Der Hauptfehler der Finanzbranche ist ihr Glaube an die eigene Unbesiegbarkeit»

05.11.2015
Frau Richards, Sie vergleichen die Eisberge, die den Untergang der Titanic bedeutet haben, mit der Weltwirtschaft. Wie kamen Sie darauf?
Der Untergang der Titanic illustriert, dass Eisberge trotz ihrer Grösse bisweilen überraschend schwer zu lokalisieren sind. Aber er zeigt auch, dass selbst unter einer spiegelglatten Meeresoberfläche Gefahren lauern können. Das Aufdecken potenzieller Risiken in der Weltwirtschaft ist genauso schwierig. Im Vergleich zur Seefahrt sind die Instrumente aber weniger gut entwickelt. Die Verfassung einer Volkswirtschaft wird in der Regel anhand von Kennzahlen wie Inflation oder Bruttoinlandsprodukt (BIP) beurteilt. Aber diese Werkzeuge sind bestenfalls grobmotorisch und bisweilen sogar stumpf: Gutverdiener und Bezüger niedriger Einkommen empfinden die Inflation in einem Land höchst unterschiedlich, während das BIP-Wachstum als Ganzes gemessen die erheblichen Auswirkungen der demographischen Entwicklung möglicherweise ausser Acht lässt.
Haben Sie uns ein Beispiel dafür?
Ein Paradebeispiel hierfür ist Japan: Der Konsum ermöglichte viele Jahre lang nur eine extrem niedrige oder sogar negative Inflationsrate. Das BIP-Wachstum war nach internationalen Standards ebenfalls extrem niedrig. Trotzdem konnte das Land einen hohen Lebensstandard und eine niedrige Arbeitslosenquote halten - vor allem aufgrund des sehr hohen BIP pro Kopf. In einer alternden Welt werden Pro-Kopf-Kennzahlen immer wichtiger. Sehr verwirrend ist auch die Unsicherheit darü¨ber, wie gut herkömmliche Tools zur Messung der Wirtschaftsaktivität die virtuelle Online-Wirtschaft erfassen, während die Berücksichtigung sozial-ethischer Aspekte wie beispielsweise die Ungleichheit der Einkommen bei der Gesamtbeurteilung der Verfassung einer Volkswirtschaft immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Müssen jetzt die Risiken anders dargestellt werden?
Dies sind wichtige Überlegungen, denn an den Finanzmärkten navigieren wir derzeit - bildlich gesehen - in vielerlei Hinsicht in nicht kartographierten Gewässern und ohne Satellitenbild als Unterstützung. Die quantitative Lockerung (QE) hat durch reichlich Liquidität das Finanzsystem vor dem Einfrieren bewahrt. Aber wer weiss, wo sich nach dem Zudrehen dieses jahrelang sprudelnden Warmwasserhahns Eisberge bilden werden? Die Federal Reserve (Fed) hat ihre Bilanz auf rund 4 Billionen US-Dollar, d.h. auf knapp den vierfachen Vorkrisenwert, ausgeweitet. Doch damit steht sie nicht allein - andere Zentralbanken haben es ihr nachgemacht. Es gibt kein Handbuch für die drastische Reduzierung einer derart aufgeblähten Bilanz auf «Normalmass». Fest steht nur, dass die Fed dabei nicht mit voller Kraft voraus segeln kann.
Welche Fehler sehen Sie?
Einer der Hauptfehler der Finanzdienstleistungsbranche ist der Glaube an ihre eigene Unbesiegbarkeit. Dies kann ebenso auf unsere eigene Geschäftstätigkeit wie auf das von uns im Kundenauftrag verwaltete Vermögen zutreffen. Trotz hoher Eintrittsbarrieren - wie zum Beispiel Regulierung - ist unsere Branche vor Disruption nicht besser gefeit als andere Branchen. Die Technologie eröffnet völlig neue Vertriebskanäle, wobei «Fintech» das Schlagwort «du jour» in der gesamten Branche ist.
Der Untergang der Titanic war also eine Kombination von Fehleinschätzungen?
Der Untergang der Titanic ist nicht nur ihrer Kollision mit einem Eisberg zuzuschreiben, sondern auch dem Glauben ihrer Konstrukteure an ihre Unsinkbarkeit. In unserer Branche sind bisweilen beunruhigende Signale für eine ähnliche Selbstgefälligkeit erkennbar. Weder eine Ozeanüberquerung noch das Navigieren an den Finanzmärkten sind völlig frei von Risiken. Aber wir können einiges tun, um diese Risiken besser zu verstehen. Wir können bessere Instrumente zu ihrer effizienten Steuerung entwickeln, so dass wir mit Notfallplänen letztendlich für eine Krise gerüstet sind. Damit steigern wir bei rauer See unsere Überlebenschancen, wenn der Ruf «alle in die Rettungsboote» ertönt.
Anne Richard ist CIO von Aberdeen Asset Management in London. Sie hat an der Universität Edinburgh ein Physikstudium absolviert und hält einen MBA der französischen Hochschule Insead. Sie begann ihre Karriere in der Nuklearforschung beim Cern in Genf und arbeitete für Cambridge Consultants. In die Finanzbranche trat sie 1992 ein, als Analystin bei Alliance Capital. Später wechselte sie in die Vermögensverwaltung bei J.P. Morgan und Mercury Asset Management (danach: MLIM). 2002 wurde sie CIO und Generaldirektorin bei Edinburgh Fund Managers und kam in der gleichen Funktion zu Aberdeen Asset Management, als diese Firma ihren Arbeitgeber übernahm. Zu Anne Richards weiteren Funktionen gehören ein Direktorinnenposten bei Esure Group und eine Ratsmitgliedschaft im Herzogtum Lancaster. Sie ist im Führungsgremium von «2020 Women on Boards» und setzt sich nicht nur aktiv für mehr Frauenkarrieren in der Wirtschaft ein, sondern unterstützt zusammen mit ihrem Mann auch die Universität Edinburgh, besonders im Bereich Stipendien.
Aberdeen Asset Management ist ein global aufgestellter Assetmanager und ein im FTSE 100-Index geführtes Unternehmen. Es ist in 25 Ländern mit 33 Büros, über 850 Investmentspezialisten und insgesamt 2’700 Mitarbeitenden vertreten. Die verwalteten Vermögen betrugen per 30. Juni 2015 über 451,7 Mrd. Schweizer Franken.