«Der Weg nach oben wird nicht geradlinig verlaufen»

16.07.2020
Herr Schulze, die Finanzmärkte erholen sich kräftig, während die Konjunktur deutlich unter Druck steht. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?
Mir kommt ein verbreitetes Paradoxon in den Sinn: Was passiert, wenn eine unaufhaltsame Kraft auf ein unbewegliches Objekt trifft? In diesem Fall ist diese unaufhaltsame Kraft die unerschütterliche Entschlossenheit unserer politischen Entscheidungsträger, der amerikanischen Notenbank Fed und des Kongresses, den Absturz in die nächste grosse Depression zu vermeiden. Das unbewegliche Objekt ist die US-Wirtschaft, die nach wie vor ausserordentlich fragil ist und mit unterschiedlichen Belastungen wie zunehmenden Coronavirus-Infektionen, einem extrem schwachen Arbeitsmarkt, einer steigenden Zahl von Konkursen und einem potenziell zögerlichen Verbraucher konfrontiert ist. Bislang gibt der Markt der unaufhaltsamen Kraft den Vorzug, wobei die Unterstützung der Politik die wirtschaftliche Schwäche überdeckt.
Wie beurteilen Sie die bisherige Krisenpolitik der Regierungen und Notenbanken?
Wir glauben, dass die politischen Entscheidungsträger die richtigen Antworten gefunden haben. Das National Bureau of Economic Research erklärte die gegenwärtige Rezession nur vier Monate nach ihrem Beginn offiziell zur kürzesten aller Zeiten. Die Polit-Akteure konnten mit raschen und aggressiven Massnahmen reagieren, um die wirtschaftlichen Auswirkungen des Lockdowns zu bekämpfen und einen Kollaps des Finanzsystems zu verhindern. Gleichzeitig agierte die Fed fast mit Lichtgeschwindigkeit bei der Liquiditätsversorgung der Kreditmärkte. Sie tat innerhalb weniger Wochen das, was während der globalen Finanzkrise mehrere Quartale dauerte.
Ihr hauseigenes Rezessionsrisiko-Dashboard hilft, die Bedingungen zu identifizieren, die für die Gestaltung historisch dauerhafter Markttiefs notwendig waren. Wie interpretieren Sie die aktuellen Signale?
Im Mai zeigte das Hauptsignal auf Gelb, was auf einen sich verbessernden Hintergrund hindeutet. In diesem Monat setzte sich diese positive Dynamik fort, das Signal ist weiter auf Grün vorgerückt. Dies ist auf zwei positive Veränderungen des zentralen Signals sowie auf eine weitere Verbesserung mehrerer anderer Indikatoren zurückzuführen, die eine Signaländerung nicht rechtfertigten. Die erste fundamentale Signaländerung ist das Geschäftsklima (ISM), das sich direkt von Rot auf Grün verbessert hat. Das Geschäftsklima ist für jede wirtschaftliche Erholung entscheidend, und die ISM-Umfrage im verarbeitenden Gewerbe ist der geeignetste Indikator dafür. Sie liefert eine ausgezeichnete Aussage über die Investitionsabsichten der Unternehmen, die in der Vergangenheit die Wirtschaftstätigkeit angeführt haben. Die zweite Signaländerung betrifft die Finanzierungsbedingungen, die sich auf Gelb verbessert haben. Die starke Unterstützung durch die Fed hat in den vergangenen Wochen zur Entspannung beigetragen. Angesichts der Aussagen der US-Notenbank, dass die Politik auf absehbare Zeit äusserst akkommodierend bleiben wird, wäre es nicht überraschend, wenn sich dieser Indikator weiter verbessert und im Laufe dieses Sommers auf Grün wechselt.
Wie lange könnte die derzeit laufende Erholungsrally anhalten?
Obwohl sich die Märkte von den Tiefstständen im März stark nach oben bewegt haben, sind wir der Meinung, dass Anleger nicht der Befürchtung erliegen sollten, dass sie etwas verpasst haben. Historisch betrachtet hat sich der S&P 500 nach dem Ende der Rezession während der anschliessenden Expansion im Durchschnitt um 96 Prozent erholt. Dies kam zu den 28,5 Prozent hinzu, die der Markt zurückblickend zwischen dem Tiefpunkt und dem Ende der Rezession gewonnen hat. Konzentriert man sich auf Aufwärtsbewegungen, die während der langfristigen Bullenmärkte stattfanden, erhöht sich die durchschnittliche Rendite auf 149 Prozent. Unabhängig davon legt die historische Erfahrung nahe, dass dank der wohl kürzlich beendeten Rezession ausgehend vom aktuellen Niveau genügend Aufwärtspotenzial für längerfristig orientierte Anleger besteht. Der weitere Weg nach oben wird jedoch nicht geradlinig verlaufen, die Wahrscheinlichkeit einer Korrektur in den kommenden Monaten bleibt nach der Erholung von 38,6 Prozent in den vergangenen 15 Wochen hoch.
Auf was sollten sich Anleger mit Blick auf die weitere Entwicklung der Wirtschaft einstellen?
Während der anfängliche konjunkturelle Aufschwung nach dem Tiefpunkt die Konsenserwartungen übertroffen hat, wird die Stunde der Wahrheit in der zweiten Jahreshälfte kommen. Viele Staaten verlangsamen ihre Wiedereröffnungspläne aufgrund zunehmender Coronavirus-Fälle und kehren diese in einigen Fällen sogar um. Leider war der punktuelle, von Staat zu Staat verfolgte Ansatz bei der Abriegelung der Märkte im Vergleich zu Europa weitaus weniger erfolgreich. Die gute Nachricht ist, dass sich einige Teile des Landes erholen und dass die Lockdowns aufgrund der Fortschritte der Gesundheitssysteme, mit den Fällen umzugehen, wahrscheinlich stärker lokal erfolgen werden. Im Vergleich zum März dürfte der zukünftige wirtschaftliche Schaden begrenzter sein. Eine weitere Herausforderung besteht in einem potenziellen Mangel an Engagement seitens älterer US-Verbraucher. In jüngster Zeit haben sich die Fälle stärker auf jüngere Amerikaner konzentriert. Allerdings sind über 55 Jahre alte Menschen für 40 Prozent der Konsumausgaben verantwortlich. Diese Personengruppe scheint vorsichtiger zu sein, wenn es darum geht, sich hinaus zu wagen. Wir glauben, dass dies auch dann so bleiben wird, wenn die Massnahmen zur sozialen Distanzierung weiter gelockert werden.
Link zum Disclaimer
Jeffrey Schulze ist Anlagestratege bei ClearBridge Investments und verantwortlich für das Kapitalmarkt- und Wirtschaftsresearch. Als Meinungsführer in diesem Bereich wird er häufig in den Finanzmedien zitiert, darunter im Wall Street Journal, bei CNBC und bei CNN. Er stiess 2014 zu ClearBridge Investments und verfügt über 15 Jahre Erfahrung in der Investmentbranche. Schulze erhielt einen BS in Finanzen von der Rutgers University und ist Mitglied des CFA Institute.