«Die aktuellen Schlagzeilen zu Risiken in Emerging Markets sind überzogen»

23.08.2018
Herr Saltiel, die Stimmung bei Investoren für Anlagen in Schwellenländern ist nach zwei starken Jahren wieder etwas gesunken. Sind solche Bedenken berechtigt?
Wachsende Risiken für die Emerging Markets (EM) wie die Türkei oder ein stärkerer US-Dollar dominieren die Schlagzeilen, doch wir glauben, dass solche kurzfristigen Reaktionen überzogen sind. Das langfristige Risikoprofil für die Schwellenländer im Allgemeinen verbessert sich weiter. Aus langfristiger Perspektive sehen wir weiterhin ein solides konjunkturelles und markttechnisches Fundament, auf Basis dessen EM-Unternehmen und auch Anleger profitieren können.
Die Volatilität an den Börsen dieser Regionen ist nicht mehr so hoch wie vor zehn Jahren. Woran liegt das?
Die Volatilität an den Schwellenländerbörsen tendiert schon seit einiger Zeit nach unten. In der Vergangenheit waren EM-Aktien weitaus volatiler als die Konkurrenz aus den Industrieländern, da die Anleger sie generell als riskanter erachteten. In der ersten Hälfte dieses Jahres ist die Volatilität in den Schwellenländern jedoch gesunken, obwohl sie etwa in den USA erheblich angesprungen ist.
Dies liegt zum Teil an der Zusammensetzung der Benchmark. In den vergangenen zehn Jahren ist die Gewichtung von zyklischen Sektoren wie Energie und Rohstoffe im MSCI Emerging Markets Index dramatisch gesunken. Zugleich sind Technologieaktien zum grössten Sektor aufgestiegen. Diese Verschiebung hat die Konjunkturabhängigkeit und das Risikoprofil von EM-Aktien signifikant reduziert. Dennoch wird der MSCI Emerging Markets Index zu einem Abschlag gegenüber den Industrieländern gehandelt. Die Anleger scheinen also immer noch zu glauben, dass EM-Aktien riskanter sind.
Wie sehen Sie die Auswirkungen weiterer Spannungen im Handel zwischen den USA und China?
Wir denken, dass die langfristigen Auswirkungen der Spannungen zwischen den USA und China sich nur begrenzt auf Schwellenländer auswirken werden. Die bisher angekündigten Tarife werden voraussichtlich nur wenig Auswirkungen auf Chinas Wirtschaftswachstum haben. Ab dem zweiten Quartal liegt das BIP-Wachstum des Landes leicht über dem Zielwert der Regierung von 6,5 Prozent für das Gesamtjahr.
Wenn wir uns einzelne Unternehmen und Aktien anschauen, repräsentieren die US-Einnahmen weniger als 2 Prozent der kombinierten Gewinne börsennotierter chinesischer Unternehmen. Die Abwertung des Renminbi im Sommer wird sich auf chinesische Aktien auswirken, aber es ist anzumerken, dass die Währung im bisherigen Jahresverlauf weniger als 5 Prozent gegenüber dem US-Dollar gefallen ist.
Wir gehen daher davon aus, dass die Performance chinesischer Aktien seit Jahresbeginn eine Überreaktion auf den anhaltenden Handelsstreit zwischen den USA und China darstellt. Wir setzen auf chinesische Aktien, deren Wachstumstreiber struktureller Art sind und vom Inlandsverbrauch und der wachsenden Mittelschicht des Landes abhängen und nicht vom Export.
Welchen Ansatz verfolgt Ihre Strategie?
Wir suchen Unternehmen, deren Wachstum säkular ist und nicht mit Konjunkturzyklen verbunden ist. Wir setzten auf Unternehmen, die einen starken Wettbewerbsvorteil haben und «Return on invested capital» (ROIC) über ihre Kapitalkosten hinaus langfristig generieren können. Wir vermeiden stark zyklische Firmen, die durch schwächere makroökonomische Bedingungen in Schwellenländern beeinträchtigt werden könnten.
Unsere Bestände weisen unabhängig von Konjunkturzyklen tendenziell eine überdurchschnittliche Wachstumsdynamik auf. Hierbei liegt der Focus auf strukturelle Trends, die sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinziehen. Zum Beispiel macht der Online-Handel in China trotz stetigen Wachstums nur 18 Prozent des 4 Billionen US-Dollar grossen Verbrauchermarktes aus. In Indien ist die Durchdringung der Hypotheken mit 8 Prozent des BIP äusserst gering und dürfte das Wachstum für gut geführte Immobilienfinanzierungsunternehmen antreiben.
Unser Anlageprozess ist jedoch nach wie vor «Bottom-up». Wir geben die meisten unserer Forschungsressourcen aus, um die Wettbewerbsvorteile und die Wachstumsdauer einzelner Unternehmen zu bewerten.
Wo sehen Sie aktuell Chancen?
Wir sehen erhebliche Chancen durch die wachsende Mittelschicht und den sich wandelnden Charakter des Konsums in den Schwellenländern. 90 Prozent der Weltbevölkerung unter 30 Jahren lebt heute in einem aufstrebenden Markt, während die erwerbsfähige Bevölkerung in vielen Industrieländern schrumpft. Wir sehen auch eine deutliche Verschiebung der Präferenzen und Kaufkraft bei jungen EM-Verbrauchern. Im Gegensatz zu ihren Eltern, die eine sehr hohe Sparquote haben, gebt die nächste Generation ihr Geld für Reisen, Gesundheitswesen und Automobile aus und verzögern Entscheidungen, wie zum Beispiel heiraten oder ein Haus kaufen.
Bis auf wenige Ausnahmen sollten die führenden Unternehmen in diesen Segmenten ein nachhaltiges Wachstum für mehrere Jahre erzielen. In China haben zum Beispiel viele einheimische Marken ihre Produktqualität verbessert und den importierten Marken einen bedeutenden Marktanteil abgerungen. Wir sehen auch das Auftauchen von Weltmarktführern im Bereich Fintech und E-Commerce-Innovationen aus den Schwellenländern, die auf lange Sicht die US-Konkurrenz herausfordern könnten.
Laurent Saltiel ist Chief Investment Officer (CIO) für Emerging Markets Growth. Vor seinem Eintritt bei AllianceBernstein im Jahr 2010 war er acht Jahre bei Janus Capital tätig. Zuletzt führte er mehrere internationale und globale Wachstumsportfolios. Zuvor war er als Research Analyst für Rohstoff- und Konsumgüter-Sektoren sowie Aktien aus Brasilien und Indien tätig. Laurent Saltiel hat einen Abschluss in Business Administration von der Ecole Supérieure de Commerce de Paris (ESCP) und einen MBA der Harvard Business School.