«Die Angst vor einer langfristigen Stagnation scheint überzogen»

Internationaler Chefökonom im Anleihenbereich
T. Rowe Price. Baltimore
troweprice.com
06.03.2020
Herr Schmidt, sind wir wirklich schon in die von vielen Investoren befürchtete langfristige Stagnation, also eine Phase mit einer chronisch schwachen Nachfrage, eingetreten?
Da sich die Leitzinsen so nah an der Untergrenze bewegen, bleibt der Geldpolitik kaum Spielraum, falls es zu einem negativen Nachfrageschock kommen sollte. Den Zentralbanken bereitet dies schweres Kopfzerbrechen. Ich bin nicht der Auffassung, dass eine langfristige Stagnation die Hauptursache für das schwache Wachstum in den letzten zehn Jahren ist. Vielmehr sind die beispiellos niedrigen Zinssätze während dieser Zeit das Ergebnis eines langwierigen Schuldenabbaus, der durch die starke Zunahme von makroökonomischen Ungleichgewichten vor der globalen Finanzkrise ausgelöst wurde. Dieser Prozess dürfte aber irgendwann enden. Daher glaube ich, dass die Weltwirtschaft wohl in einer viel besseren Verfassung ist, als die Anhänger der These der langfristigen Stagnation uns glauben machen möchten.
Was waren die gravierendsten makroökonomischen Ungleichgewichte?
Es gab im Wesentlichen drei. Erstens begünstigten in den Jahren vor der Finanzkrise die lockeren Finanzierungsbedingungen einen enormen Bauboom. Dieses Ungleichgewicht führte zu einem grossen Bestandsüberhang, der auch heute noch nicht ganz abgebaut ist. Zweitens haben die Erschütterungen im Wohnbausektor den Bilanzen der privaten Haushalte grösseren Schaden zugefügt als die Schocks an den Finanzmärkten. Die Wertminderung in den Bilanzen privater Haushalte hat zusammen mit restriktiveren Kreditvergabestandards den Zugang der Haushalte zu Krediten beeinträchtigt. Drittens haben sich die Haushaltsdefizite infolge der Finanzkrise aufgebläht. In den Schwellenländern, in denen der Privatsektor zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Krise tadellose Bilanzen vorweisen konnte, wurde die Kreditvergabe an den Privatsektor zügig hochgefahren.
Wie hat sich der Schuldenabbau in den unterschiedlichen Regionen manifestiert?
In den USA haben die Haushalte ihre Verschuldung zwar zügig reduziert, der Sektor der Nichtfinanzunternehmen hat die Kreditaufnahme aber massiv erhöht. Genutzt wurden diese Kredite hauptsächlich für Aktienrückkäufe, Dividendenzahlungen und Übernahmen, was aber - anders als die Kapitalbildung - keinen Beitrag zum Wachstum leistet. In Europa und Japan hat sich der Schuldenabbau auf viele verschiedene Weisen vollzogen. Gleichwohl gab es einen starken Impuls, die Haushaltsdefizite zu reduzieren, die sich während der globalen Finanz- und der europäischen Staatsschuldenkrise aufgebläht hatten. Der Schuldenabbauprozess in China wiederum ging mit einer entschlossenen Neuausrichtung der politischen Prioritäten weg vom Wachstum und hin zur Finanzstabilität und konzentrierte sich dabei auf Sektoren abseits der privaten Haushalte.
Was passiert, wenn alle gleichzeitig ihre Schulden abbauen - also sparen - wollen?
Eine zu geringe Nachfrage dämpft das Wachstum, und ein Überschuss an verleihbaren Mitteln drückt die Zinssätze. Es wäre jedoch ein Fehler zu glauben, dass ein langfristiger Schuldenabbau etwas «Natürliches» oder «Logisches» wäre. In Volkswirtschaften mit einer wachsenden Bevölkerung sollten die Schulden der privaten Haushalte einen immer höheren Anteil am Gesamteinkommen haben, denn bei einer steigenden Zahl von Haushalten muss auch der Bestand an verfügbarem Wohnraum wachsen. Das wiederum bedeutet, dass irgendwer eine Hypothek aufnehmen muss - entweder der Haushalt oder der Vermieter.
Welche Konsequenzen zieht der Schuldenabbau nach sich?
Eine Folge ist, dass es nur noch wenige makroökonomische Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft gibt: Volkswirtschaften, die Schulden abbauen, erleben keinen Investitions- oder Konsumboom. Eine Rezession ist meist eine Reaktion auf einen Exzess. Aus einer makroökonomischen Perspektive betrachtet, weist die Weltwirtschaft daher angesichts der bereits lange andauernden Expansion eine ungewohnt grosse Resilienz auf. Irgendwann wird es zwar unweigerlich zu einer Korrektur kommen. Da aber praktisch keine makroökonomischen Ungleichgewichte bestehen, dürfte sie weniger stark ausfallen.
In welchem Bereich könnte es zu einer Korrektur kommen?
Ein Beispiel ist die steigende Verschuldung der Nicht-Finanzunternehmen in den USA. Finanziell ist das eindeutig ein Unsicherheitsfaktor, der bei der nächsten Rezession eine wichtige Rolle spielen wird. Da diese Schulden aber nicht - etwa in Form eines Investitionsbooms - ihren Weg in die Realwirtschaft gefunden haben, werden sich auf makroökonomischer Ebene wahrscheinlich auch keine grösseren Verzerrungen ergeben.
Was ist nötig, damit Verbraucher und Unternehmen wieder Kredite aufnehmen und dadurch das Wachstum ankurbeln?
Eine weitere Voraussetzung für die Schuldenaufnahme ist neben der Beendigung der Bestandskorrektur im Bau- und Wohnbaubereich ein gewisses Zukunftsvertrauen, das wiederum eine stabile Politik erfordert. Die vergangenen Jahre brachten uns jedoch das Hin und Her im Handelskonflikt zwischen den USA und China, die schier unendliche Geschichte vom Brexit und den Aufstieg von populistischen Anti-Establishment-Parteien in vielen Ländern. Möglicherweise muss erst wieder ein gewisses Mass an politischer Stabilität Einzug halten, ehe die Haushalte und Unternehmen wieder Geld ausgeben.
Link zum Disclaimer
Nikolaj Schmidt ist Internationaler Chefökonom im Anleihenbereich bei T. Rowe Price und seit mehr als 20 Jahren im Investmentbereich tätig. Er absolvierte einen Masterabschluss und erlangte einen Doktortitel in Finanz- und Wirtschaftswissenschaften der London School of Economics and Political Science.