«Die Coronavirus-Krise hat in Italien alles auf den Kopf gestellt»

17.11.2020
Herr Tuch, in der vergangenen Woche behielt Standard & Poor’s (S&P) das Rating Italiens bei BBB und revidierte den Ausblick von negativ auf stabil. Wie beurteilen Sie diesen Vorstoss?
Dies sind eindeutig positive Nachrichten für italienische Staatsanleihen. Der Markt war besorgt, dass die Ratingagentur S&P die Einstufung Italiens aufgrund des beträchtlichen wirtschaftlichen Schadens der Coronavirus-Krise und des daraus resultierenden Anstiegs der Staatsschulden in den kommenden Jahren auf BBB- senken würde. Die Aufwärtsrevision des Ratingausblicks wird in Rom gefeiert und dürfte auch die Stimmung der Investoren gegenüber den Peripherieländern verbessern.
Wie begründete S&P diesen Schritt?
Man hob besonders die Unterstützung der EZB und die daraus resultierende niedrigere Zinsbelastung für die italienische Regierung hervor. Tatsächlich betrachtet die Ratingagentur die Coronavirus-Krise als eine Art «versteckten Segen» für Italien, da sie eine Gelegenheit bietet, das Wirtschaftswachstum mit grossen Zuschüssen und Darlehen der EU in Kombination mit der Politik der EZB wieder anzukurbeln. S&P konzentrierte sich auf die Ankaufprogramme der EZB für Staatsanleihen und die Vorteile des Europäischen Konjunkturfonds für Italien.
Würden Sie dieser Argumentation zustimmen?
An dieser Geschichte ist etwas Wahres dran, denn Italien hat die EU und die EZB seit langem um Unterstützung bei der Umstrukturierung seiner Wirtschaft gebeten. Vor der Coronavirus-Krise war die EZB recht zögerlich, weitere Staatsanleihen zu kaufen, während es die EU Italien nicht erlaubte, seine Staatsausgaben auszuweiten, da es die Maastricht-Kriterien zur Schuldentragfähigkeit nicht erfüllte. Die Coronavirus-Krise hat alles auf den Kopf gestellt, und nun kann die italienische Regierung in den nächsten Jahren mit Zahlungen aus der EU in Höhe von bis zu 12 Prozent ihres BIP aus Brüssel rechnen und ist auch in der Lage, Schulden mit freundlicher Genehmigung der EZB zu wesentlich niedrigeren Renditen zu refinanzieren.
Welche Rolle spielen italienische Staatsanleihen innerhalb der Eurozone?
Der italienische Markt für Staatsanleihen ist aktuell der Dreh- und Angelpunkt für den gesamten europäischen Markt für Staatsanleihen. Das Land ist der grösste Anleiheemittent in der Eurozone, das italienische Finanzministerium hat die wenig beneidenswerte Aufgabe, jedes Jahr mehr als 300 Mrd. Euro neue Anleihen zu begeben, um seine bestehenden Schulden zu prolongieren und das Defizit zu finanzieren. Diese Zahl wird sich noch weiter erhöhen, da die Staatsverschuldung Italiens in den nächsten Jahren von 130 Prozent auf 150 Prozent ansteigt. Investmentbanken würden schnell hinzufügen, dass die EZB sowohl in diesem als auch im nächsten Jahr faktisch das gesamte Angebot aufkaufen wird, so dass wir uns diesbezüglich keine Sorgen machen müssen.
Sind italienische Staatsanleihen vor diesem Hintergrund aktuell ein Kauf?
Es ist nicht mehr möglich, diese Anleihen zu ignorieren. Wir sollten aber die Augen nicht vor den strukturellen Problemen der italienischen Wirtschaft und ihrer zunehmenden Abhängigkeit von der Unterstützung aus Brüssel und Frankfurt verschliessen. Darüber hinaus kann der beunruhigende Trend zur Selbstzufriedenheit sowohl bei den Anlegern als auch bei den italienischen Politikern den Trend zu niedrigeren Spreads bei italienischen Anleihen leicht stoppen und umkehren.
Woran machen Sie diese Selbstgefälligkeit fest?
Die politische Elite in Rom ist sich bewusst, dass die Wirtschaft umstrukturiert werden muss, aber sie schöpft die angebotene Unterstützung nicht voll aus. Anfang dieses Jahres schlug die EU vor, dass Italien sich an den Europäischen Stabilitätsmechanismus wenden sollte, um Unterstützung zu erhalten, was zu weiteren Käufen der EZB im Rahmen ihres OMT-Programms hätte nach sich ziehen können. Rom konzentrierte sich stattdessen darauf, Zuschüsse von der EU zu erhalten. Das gleiche Problem sehen wir im Programm des Europäischen Konjunkturfonds, der fast zur Hälfte aus niedrig verzinsten, längerfristigen EU-Darlehen bestanden hätte. Wieder einmal sagte die italienische Regierung «Nein» zu dieser Möglichkeit, die Investitionen zu erhöhen und die Wirtschaft umzustrukturieren. Dies sind gute Beispiele für die Selbstgefälligkeit der italienischen Regierung und den Mangel an Phantasie darüber, was passiert, wenn die EZB beginnt, ihre Unterstützung zu reduzieren. Alles könnte im Moment in Ordnung sein, vor allem, da in diesem Jahr weitere Impulse der EZB erwartet werden. Aber diese Phase des guten Willens gegenüber italienischen Anleihen wird nicht ewig dauern, und die Anleger sollten sich auf eine Änderung des gegenwärtigen Trends vorbereiten.
Was bedeutet dies für die künftige Entwicklung?
Es liegt auf der Hand, dass die niedrigen Renditen und Spreads italienischer Staatsanleihen nicht in Rom, sondern in Brüssel und Frankfurt zustande kommen, was meines Erachtens das Hauptthema für die längerfristigen Aussichten für italienische Staatsanleihen ist. Vor der Coronavirus-Krise ist Italiens Konjunktur kaum gewachsen und das reale BIP im Jahr 2019 auf dem gleichen Niveau wie vor 20 Jahren. Die Coronavirus-Krise hat das BIP erneut in Mitleidenschaft gezogen, wobei sich die Lücke voraussichtlich nicht vor 2023 schliessen wird. Die italienische Wirtschaft wird auch nach dem Verschwinden des Coronavirus eine lange Liste von strukturellen Problemen belasten. Die meisten Unternehmen sind zu klein, um im globalen Wettbewerb zu bestehen und konzentrieren sich auf Sektoren, die in einem von der Informationstechnologie geprägten Wachstumsumfeld nicht gedeihen. Zugleich altert die italienische Bevölkerung rapide und ihre Arbeitskräfte sehen sich weiterhin mit einem starren Arbeitsmarkt konfrontiert, insbesondere für Neueinsteiger. Die bisherige Politik der italienischen Regierung hat nur zu einer weiteren Konjunkturabschwächung beigetragen - und es ist unwahrscheinlich, dass die derzeitige fragile Koalition in der Lage ist, dies umzukehren.
Link zum Disclaimer
Hendrik Tuch ist Head of Fixed Income bei Aegon Asset Management und stiess im Juni 2011 als Senior Portfoliomanager zu dem niederländischen Vermögensverwalter. Tuch konzentriert sich auf die Staatsanleihenfonds und taktische Zins-Overlay-Produkte. Er verfügt über zwölf Jahre Erfahrung auf den Finanzmärkten, hat einen MSc in Wirtschaftswissenschaften von der Erasmus-Universität Rotterdam und ist Chartered Financial Analyst (CFA).