«Die ETF-Branche schafft gerade die Voraussetzung für ihre Underperformance»

28.08.2015
Herr Masarwah, immer mehr ETFs bedeuten auch immer mehr Arbeit. Freut Sie das?
Absolut, ich mag ja schliesslich meine Arbeit! Aber ernsthaft: Je mehr ETFs es gibt, desto besser ist das für den Anleger. Zum einen bringt ihm ein mehr ETFs ein mehr an Auswahlmöglichkeiten. Im Gegensatz zu nicht-börsenkotierten Indexfonds haben ETFs so ziemlich alle Wertpapierkategorien erschlossen. Es ist also eine sehr granulare Asset Allocation für Profi-Anleger möglich. Zudem belebt die Konkurrenz das Geschäft. Wenn viele ETFs denselben Index abbilden, dann ist das für Anleger keinesfalls unübersichtlich oder gar ein Ärgernis. Denn mit wenigen Klicks können Anleger schnell erkennen, wer den besten Job beim Tracking gemacht hat. Bei ETFs ist das sehr transparent, das ist wie ein Windhundrennen. Zudem zieht die Produktvielfalt zwangsläufig die Konkurrenz der Anbieter um das begrenzte Geld der Anleger nach sich. Ein Konditionenwettbewerb kommt wiederum den Investoren zugute. Ich kann mich gut erinnern, dass vor rund zehn Jahren DAX ETFs pro Jahr 50 Basispunkte an Gebühren gekostet haben. Heute sind etliche DAX ETFs für weniger als 10 Basispunkte pro Jahr zu haben. Die Gebühren von ETFs sind insbesondere in den vergangenen zwei, drei Jahren stark gefallen. Das ist ein handfester Vorteil für Anleger. Allerdings gilt diese positive Einschätzung in erster Linie für ETFs auf die grossen Standard-Indizes…
… der ETF-Markt besteht aber nicht nur aus Trackern auf DAX, SMI oder MSCI World…
Genau, da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Es ist für uns Researcher recht einfach, die in Zürich oder Frankfurt kotierten ETFs mit ein paar Mausklicks nach Kategorien, Anbietern, Performance oder Vermögen zu überblicken oder zumindest einen schnellen Eindruck über Veränderungen zu gewinnen. Für Privatanleger kann es dagegen schon schwer sein, den Überblick über alle möglichen Sektor-, Strategie- oder Länder-ETFs zu behalten. Privatanleger sollten sich nicht zu einer sehr fein ziselierten Asset Allocation verleiten lassen, nur weil es viele Produkte am Markt gibt. Sie sollten sich auf die grossen, bekannten Standard-Indizes konzentrieren. Ich würde keinem Anleger mit einem freien Vermögen von unter 100‘000 Franken/Euro zu mehr als 10 ETFs im Portfolio raten. Von Hebel-ETFs und von vielen Strategie-Produkten, die eher intransparent sind bzw. eine sehr klare Marktmeinung voraussetzen, würde ich ebenfalls abraten.
Schauen Sie alle Emittenten an oder konzentrieren Sie sich auf die Handvoll grossen Adressen?
Wir haben den gesamten Markt im Blick. Das müssen wir ja auch, denn schliesslich ordnen wir grundsätzlich alle ETFs in eine Produktkategorie ein, was natürlich voraussetzt, dass wir die aktuellen Entwicklungen im Blick haben. Mit unserem Industrie-Research gehen wir auch regelmässig auf aktuelle Trends ein, und die werden ja nicht nur von den grossen Häusern gesetzt. Zuletzt haben wir Grundlagen-Research zum Thema Strategic Beta veröffentlicht, und unsere Untersuchungen zu derivativen Risiken in Swap-basierten und physisch replizierenden Produkten haben grosse Wellen geschlagen. Worauf wir im Einzelnen den Fokus setzen, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Bei Analysen zu Peer Groups und einzelnen ETFs, die wir regelmässig auf morningstar.ch oder morningstar.de veröffentlichen, stehen eher die grösseren Produkte im Vordergrund, da diese für viele Investoren relevant sind. Aber wir haben auch ein Auge auf Innovationen von Nischenanbietern, die in der Regel nicht so viele Assets auf die Waage bringen.
Was sind für Sie im laufenden Jahr die wichtigsten neuen Produktströmungen?
Wir sehen generell eine immer stärkere Fragmentierung auf Ebene der Asset-Klassen bzw. auf Ebene einzelner Kategorien, ja sogar bei einzelnen Indizes. Heute werden zum Beispiel auf der Bond-Seite immer mehr einzelne Laufzeitbänder und Bonitätsstufen in ETFs gegossen. Auf der Aktienseite sind es währungsgesicherte Produkte und immer speziellere Strategien bzw. Sub-Strategien. Ein Beispiel hierfür sind ETFs, die Unternehmen mit besonders gewichtigen Aktien-Rückkaufprogrammen abbilden. Das interessante ist, dass die ETF-Branche mit dieser zunehmenden Fragmentierung die Voraussetzung dafür schafft, dass künftig immer mehr ETFs ihre Peergroups bzw. den marktbreiten Index underperformen werden. Spezielle Strategien werden möglicherweise in bestimmten Zeiten eine markante Outperformance erzielen. Spiegelbildlich dazu werden sie aber zwangsläufig zu anderen Zeiten ebenso markant underperformen. Die ETF-Branche profitiert derzeit vom schlechten Leumund aktiv verwalteter Fonds, von denen viele ihre Benchmark nicht schlagen. Ich frage mich, was die Folge für das Image der ETF-Branche sein würde, wenn in Zukunft 60,70 oder 80 Prozent der ETFs einer Kategorie die marktbreite Benchmark oder den Durchschnitt vergleichbarerer aktiver Fonds underperformen würden.
Gibt es auch Trends, auf die man getrost verzichten könnte?
Ich vermute, dass viele Strategic-Beta ETFs, die in der Marketingsprache der Anbieter auch als «Smart Beta» bezeichnet werden, enttäuschen werden. Diese Produkte, die den Anspruch haben, ein besseres Rendite-Risiko-Profil zu erzielen als nach Markt- bzw. Schuldenkapitalisierung gewichtete Indizes, werden in hoher Frequenz auf den Markt geworfen. Es ist lange her, dass Fama/French neben dem Markt die Faktoren Size und Value vorgestellt haben! Heute spriessen vermeintlich neue Faktoren regelrecht wie Pilze aus dem Boden. Besonders bedenklich wäre, wenn Anleger den Eindruck gewinnen würden, dass man sich für eine Outperformance nur möglichst viele Faktor-ETFs ins Portfolio zu legen braucht. So einfach ist das nicht! «Welcher vermeintliche Faktor könnte eher eine Übung in Data Mining sein?», «Welche Faktor-ETFs haben mehr als nur Backtests vorzuweisen?», «Welche Kombination aus welchen Faktoren macht Sinn?». Das sind Fragen, die sich Investoren stellen sollten, bevor sie einen Einstieg in die Welt der Investment-Faktoren erwägen!
Wenn Sie einen Blick in die Zukunft werfen, was erwarten Sie von den ETF-Märkten in der Schweiz und in Deutschland?
Zunehmendes Wachstum und eine zunehmende Reife. Dabei dürften ETFs und passive Anlagefonds in der Schweiz stärker wachsen, weil sich hier zunehmend mehr Vertriebskanäle im Zuge der Bundesgerichtsurteile zu Retrozessionen vom Thema Kickbacks verabschieden. In Deutschland dürfte das Wachstum der ETFs im Retail-Bereich dagegen etwas gemächlicher vonstattengehen, da hier die Uhren im Vertrieb noch anders ticken. Ohne regulatorischen Schock dürfte es keine grossen Umwälzungen im deutschen Finanzvertrieb geben. Ich denke auch, dass sich das Tempo, mit dem neue Akteure den Markt erschliessen werden, verlangsamen wird. Der ETF-Kuchen wächst, aber dennoch wird es für neue Player am Markt enger, zumal die drei Platzhirsche iShares, db x-trackers und Lyxor gut zwei Drittel des Marktes auf sich vereinen.
Ali Masarwah ist Mitglied im europäischen Research-Team von Morningstar und als Chefredaktor für die deutschsprachigen Websites von Morningstar verantwortlich. Seit Juni ist er zudem als Director für das Editorial Team von Morningstar EMEA zuständig. Nach seinem Volontariat bei der Wirtschaftsnachrichtenagentur ADX in Berlin fand er recht zügig den Zugang zum Thema Investmentfonds. Im Jahr 2000 wurde er Mitglied der Fondsredaktion bei der Nachrichtenagentur vwd, die er von 2001 bis 2003 leitete. 2003 wechselte Ali Masarwah zur portfolio Verlagsgesellschaft, Frankfurt, wo er zunächst als Chefredaktor das Magazin «portfolio international» übernahm. Von 2006 bis zu seinem Wechsel zu Morningstar im Herbst 2011 hatte er zusätzlich als Redaktionsleiter die journalistische Verantwortung für alle Magazine und Websites des Verlags inne.