Die europäische Fondsindustrie befindet sich in einem Strukturwandel

20.08.2021
Herr Glow, Sie nehmen am Panel mit dem Titel «Fondsindustrie - Quo vadis» anlässlich des 1. Fundplat «Mountain Talks» Summits in St. Moritz teil. Was beschäftigt Sie im Moment ganz besonders?
Es gibt derzeit mehrere Trends in der Fondsindustrie, die ich sehr spannend finde, da sie das Potenzial besitzen, die Industrie komplett zu verändern. Im Detail sind das der Trend in Richtung ETFs, die fortschreitende Digitalisierung und Übernahmen in der Fondsindustrie.
Im Bereich der ETFs glaube ich, dass die Zulassung von sogenannten semitransparenten ETFs dazu führen wird, dass die Fondsanbieter ihre Produktpaletten umstellen werden, um so von neuen, digitalen Vertriebswegen zu profitieren.
Die fortschreitende Digitalisierung betrifft nicht nur den Produktvertrieb, sondern alle Ebenen bei den Fondsanbietern und ihren Dienstleistern und hat das Potenzial, das Aussehen der Fondsindustrie in der Zukunft komplett zu verändern.
Ein weiterer wichtiger Trend, der zeigt, dass sich die Produktanbieter und ihre Dienstleister auf den anstehenden Wandel vorbereiten, sind Unternehmensübernahmen. Zum einen ist Grösse in der Fondsindustrie wichtig. Dies erklärt unter anderem Übernahmen wie den Kauf von Lyxor durch Amundi oder die Übernahme von NN Investment Partners durch Goldman Sachs. Andere Übernahmen wie zum Beispiel der Kauf von Nutmeg durch J.P. Morgan gehen in eine andere Richtung, denn hier geht es nicht um Grösse, sondern um die Erschliessung von neuen Vertriebswegen und die Implementation von neuen Technologien. Ein weiteres spannendes Feld sind mögliche Übernahmen oder Verschmelzungen im Bereich der Serviceanbieter, wie zum Beispiel bei den Depotbanken, die zu einer noch grösseren Konzentration als ohnehin schon bei den Dienstleistern der Fondsindustrie führen könnten.
Kann man etwas überspitzt sagen, dass sich die ETF-Industrie gerade neu erfindet?
Ganz klar nein! Denn eigentlich sind es die Anbieter von aktiv gemanagten Produkten, die gerade beginnen, ihre Vertriebswege neu zu ordnen. In diesem Zusammenhang haben einige Anbieter entdeckt, dass der Produktmantel des ETF eine sehr effiziente Hülle für den Vertrieb ist. Schliesslich sind ETFs in Europa in der Regel UCITS-Produkte, die in allen Ländern der EWU sowie in Teilen Asiens und Lateinamerikas zum Vertrieb zugelassen werden können und dann einfach über die Börse in den entsprechenden Ländern vertrieben werden. Zudem werden ETFs von den sogenannten Neo-Brokern wie zum Beispiel Trade Republic oder Scalable Capital bevorzugt genutzt, wodurch die Produkthülle des ETF den Anbietern nicht nur neue Märkte, sondern auch neue Kundengruppen erschliessen kann. Wie gesagt, diese Produkteigenschaften haben ETFs schon heute, das einzige, was noch nicht vorhanden ist, ist eine Regulierung, die es den Anbietern von aktiv gemanagten Fonds ermöglicht, sogenannte semitransparente ETFs auf den Markt zu bringen, also die gültigen Transparenzregeln für Investmentfonds auch im Bereich der ETFs, die heute wesentlich höhere Transparenzvorschiften einhalten müssen, zuzulassen. Hier sehen wir aber, dass erste Regulatoren, wie zum Beispiel die SEC in den USA, auf die Nachfrage nach aktiv gemanagten ETFs reagieren und die Regulierungen entsprechend anpassen (wollen). Eine Änderung der Regularien für ETFs wird derzeit auch schon in Europa diskutiert, und ich glaube, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis diese Produkte dann auch in Europa aufgelegt werden können.
Diese Entwicklung müssen insbesondere die grossen Anbieter von aktiv verwalteten Fonds ganz genau beobachten…
Ja genau, denn dieser Trend könnte sich in einen echten Game Changer verwandeln. Zwar wird dies nicht von heute auf morgen passieren, aber ich glaube, dass einige Anbieter dennoch davon überrascht werden, da sie die fortschreitende Digitalisierung, auch auf Seiten der Investoren, immer noch für einen Modetrend halten und entsprechend voll auf den personenbezogenen Vertrieb setzen. Meiner Ansicht nach werden diese Anbieter es zukünftig sehr schwer haben, da sie sehr wahrscheinlich nicht in der Lage sein werden, ihre Pordukte und deren Infrastruktur sowie ihre Personalressourcen entsprechend schnell an das sich verändernde Marktumfeld anzupassen.
Mehrere davon sind ja schon mit ETFs unterwegs, wenn auch teilweise sehr zurückhaltend. Wie beurteilen Sie diese Situation?
Wenn man sich die europäische ETF-Industrie anschaut, stellt man fest, dass alle grossen ETF-Anbieter zu einer Gesellschaft gehören, die auch aktiv gemanagte Fonds im Angebot haben. Somit sollten diese Anbieter für einen Vertrieb ihrer aktiv gemanagten Produkte über die Börse vorbereitet sein.
Sie sprechen hier aber sicherlich über Anbieter wie Franklin Templeton, Fidelity, Goldman Sachs oder J.P. Morgan, die in der Vergangenheit eine kleine Zahl von ETFs auf den europäischen Markt gebracht haben. Diese Anbieter verfügen in den USA bereits über grosse, voll funktionsfähige ETF-Plattformen und sind somit nur in Europa neu im ETF-Geschäft. Meiner Ansicht nach bereiten sich diese Anbieter mit ihrem ETF-Angebot bereits heute auf den Trend von morgen vor und können dann entsprechend reagieren, wenn die Regulierung angepasst wird.
Somit sollten diese Anbieter zukünftig einen echten Wettbewerbsvorsprung haben, denn die Infrastruktur für einen funktionierenden Vertrieb von (aktiven) ETFs über eine Börse kann man nicht von heute auf morgen aufbauen.
Kurzum: ETFs als Produkthülle (sogenannter «Wrapper») könnte also ein echter Game Changer werden. Insbesondere auch, was den Vertrieb angeht. Sehen Sie das auch so?
Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Ich glaube zudem, dass dieser Trend auch zu massiven Veränderungen auf der Personalebene führen wird. Denn während der Vertrieb heute noch in grossem Umfang über ein starkes Front Office bestimmt wird, wird der Wettbewerb in der Zukunft über einen guten Kundenservice, also das Middle Office geführt werden. Denn wenn man seine Produkte Online beziehungsweise über Neo-Broker anbietet, werden die Kundenanfragen stark ansteigen und die modernen Kunden erwarten mittlerweile einen 24/7-Service.
Link zum Disclaimer
Detlef Glow, MBA (UoW), begann im Jahr 2005 als Leiter der Fondsanalyse für Deutschland und Österreich bei Refinitiv Lipper. Anfang 2007 übernahm er die Leitung für die Regionen Zentral-, Nord- und Osteuropa. Seit Oktober 2010 ist Glow Leiter der Fondsanalyse von Lipper in Europa, dem Nahen Osten und Afrika (EMEA). Zuvor war er als Direktor Portfoliomanagement bei der Feri Wealth Management GmbH in Bad Homburg als Portfoliomanager für vermögende Privatkunden tätig. Seine Karriere begann Detlef Glow neun Jahre zuvor bei der tecis Holding AG in Hamburg, wo er zuletzt als Leiter der Fondsanalyse sowohl für das quantitative als auch das qualitative Fondsresearch der tecis Asset Management AG verantwortlich war.