«Die Natur gibt uns das Beste»

Chef de Cuisine und Gault&Millau Green Chef of the Year 2024
Stüva Colani, Madulain
paolocasanova.ch
30.10.2023
Herr Casanova, Sie führen seit sechs Jahren das Gourmet-Restaurant «Stüva Colani» in Madulain im Oberengadin. Von Gault&Millau erhielten Sie kürzlich den 17. Punkt und wurden als erster «Green Chef of the Year» ausgezeichnet. Was bedeuten diese Auszeichnungen für Sie?
Es ist natürlich eine grosse Ehre, von oberster Stelle für seine Arbeit ausgezeichnet zu werden - noch dazu als erster «Green Chef» überhaupt. Meine Philosophie ist es, Gastronomie und Nachhaltigkeit zu kombinieren. Die Natur ist der Schrittmacher der Kulinarik, jede Jahreszeit spiegelt sich in den ihr eigenen Kräutern und Früchten. Ob Löwenzahn, Pilze, Hanf, Tannzapfen, Kastanienkaffee, Bergkieferöl, Wegerich oder Holunderblüten: Wenn die Zeit reif ist, kommt es auf den Teller. Dass es uns gelungen ist, Gault&Millau und Bio Suisse von dieser Philosophie zu überzeugen, ist eine grosse Befriedigung nach vielen Jahren konsequenter Ausrichtung.
Was mich besonders gefreut hat, ist die Anerkennung, die «Stüva Colani» sei auch eine längere Anfahrt wert.
Sie werden inzwischen als «Mr. Herbs» bezeichnet. Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, Wildkräuter zu einem Merkmal Ihrer Küche zu machen?
Es war kein fixer Plan, als ich nach Madulain kam. Das ergab sich im Laufe der Jahre. Ich bewege mich sehr gerne in der Natur und stiess beim Wandern und Mountainbiken immer wieder auf Wildkräuter, die hervorragende Geschmacksnuancen geben. Ich begann sie zu sammeln - inzwischen umfasst mein Herbarium rund 80 Kräuter sowie 40 Arten von Pilzen, Flechten und Moosen. Ich hätte mir nie träumen lassen, was da alles vor der Haustüre wächst. Da spielte insbesondere meine Schwiegermutter eine wichtige Rolle. Sie stammt aus den italienischen Alpen, kennt die Fauna und Flora sehr gut und wies mich auf das Potenzial der Wildkräuter hin. Viele wurden früher primär als Heilmittel genutzt. Heute sind geschmackliche Eigenschaften dazugekommen. Die Natur gibt uns das Beste. Ich sehe mich auch in der Verantwortung, dieses Wissen weiterzugeben.
Bei Ihnen ist demnach alles Bio, was auf den Teller kommt?
So viel wie möglich. Bio Suisse verlangt einen Mindestanteil von 30 Prozent, damit man überhaupt für den «Green Chef of the Year» infrage kommt. Wildkräuter zu ernten ist per se ein Beitrag an die Nachhaltigkeit. Es gibt Pflanzen, die sich sehr schnell ausbreiten und andere verdrängen. Wenn man sie erntet, schafft man Platz für andere. Was gemäss Bio Suisse nicht unter «Bio» läuft, kaufen wir lokal und regional ein. Ich kenne viele Produzenten persönlich. Aber es wäre falsch, seine Küche auf Regionales oder Nationales zu beschränken. Ich habe in vielen Ländern gelebt, in meiner Küche finden sich Produkte aus aller Welt. Das gilt ebenso für den Wein. Auch diesbezüglich möchte ich die Welt ins Engadin bringen, deshalb stehen im Weinkeller rund 300 Etiketten. Relevant ist, dass die Produkte aus möglichst nachhaltiger Produktion stammen.
Sie holten sich den Ritterschlag als Koch bei Massimo Bottura in Modena, der als einer der 50 weltbesten Köche gilt. Was haben Sie bei ihm gelernt?
Es mag erstaunlich klingen, aber von Massimo habe ich weniger das Handwerk gelernt, sondern sich als Koch auszudrücken. Ich war während rund zwei Jahren für eine Partie zuständig. Einmal fragte er mich: «Paolo, was ist Deine Vision eines Tiramisus?» Diese Frage mag seltsam klingen, denn jeder weiss doch, was ein feines Tiramisu ist. Aber es ging darum, wie man sich gastronomisch ausdrücken möchte. Was verbindet man mit einem Dessert? Welche Geschmacksnuancen sollen sich zeigen? Was für Assoziationen möchte man wecken? Es ist die Suche nach der Perfektion. Gastronomie hat viel Künstlerisches.
Das Handwerk hat mir insbesondere einer der Sous-Chefs beigebracht. Das war eine harte Schule. Er verstand keinen Spass, wenn etwas nicht perfekt war. Dort erkannte ich, dass man ohne Beharrlichkeit nichts erreichen kann.
Die Spitzengastronomie gilt als knallhartes Metier. Wie gehen Sie damit um?
Der Preisträger bin zwar ich und es ist meine Art des Kochens, die gewürdigt wurde. Aber dieser Erfolg wäre nicht möglich ohne ein Team, das voll hinter meiner Philosophie steht. Respekt vor der Natur bedeutet auch Respekt vor den Menschen. Die Zeiten der Diktatoren in der Küche sind vorbei. Es entspricht nicht meinem Menschenbild. Was man in der Spitzengastronomie hingegen braucht, ist Hingabe, Präzision und Konzentration. Und starke Nerven. Manchmal laufen fünf Wecker parallel - diesen Druck muss man aushalten können. Ein Abend mit zufriedenen Gästen, denen man ein besonderes kulinarisches Erlebnis bieten konnte, ist ein schöner Lohn für das ganze Team.
Link zum Disclaimer
Paolo Casanova (42) stammt aus einer Hotelierfamilie aus Campolongo di Cadore in der Nähe von Cortina d’Ampezzo in den Dolomiten. Er absolvierte das Istituto Alberghiero Ippsar D. Dolomieu und hat seither in rund 15 Restaurants in Italien, Deutschland und Bahrain gekocht. Seit 2016 führt er das Gourmetrestaurant «Stüva Colani» und das dazugehörige Bistro in Madulain (GR). Paolo Casanova wurde 2020 von Gault&Millau als «Entdeckung des Jahres» mit 16 Punkten ausgezeichnet. Kürzlich erhielt er den 17. Punkt und wurde zum ersten «Green Chef of the Year» erkoren. Seine Küche wird von Michelin mit 1 Stern bewertet.