«Die Schweiz gerät ins Hintertreffen»

13.12.2021
Herr Dr. Urban, Sie haben erst kürzlich eine Studie zu den «grünen» Gewinnern von morgen veröffentlicht. Was hat es damit auf sich?
Ja, genau. Wir haben zusammen mit Smith School of Enterprise and the Environment («SSEE») an der Universität von Oxford unter dem Titel «Predictors of Success in a Greening World» einen Report erstellt, der die aktuelle und zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der Länder in wachstumsstarken «grünen» Sektoren ermittelt. Wir wollten herausfinden, wer sich auf nachhaltige Branchen spezialisiert hat und wer der Entwicklung hinterherhinkt. Interessant war auch zu sehen, inwieweit die Länder ihre Ausgaben nach Covid-19 auf einen «grüneren Wiederaufbau» ausgerichtet haben. Zudem zeigen wir auf, welche investitionsbezogenen Auswirkungen sich daraus auf Unternehmensebene ergeben. Es soll für Anleger eine Orientierungshilfe, in einem sich schnell verändernden Marktumfeld, sein.
Bevor wir auf die Ergebnisse zu sprechen kommen, können Sie uns etwas über die Methodik der Studie sagen?
Die Studie verwendet zwei Messsysteme, um zu beurteilen, wie gut verschiedene Länder vom «grünen» Wandel profitieren können: Der Green Complexity Index («GCI») misst die Zahl und die Komplexität umweltgerechter Produkte, die ein Land wettbewerbsfähig exportiert. Damit ist er ein Massstab für die «grüne» Wettbewerbsfähigkeit und das langfristige «grüne» Wirtschaftswachstum des betreffenden Landes. Das Green Complexity Potential (GCP) erfasst die durchschnittliche Nähe der jeweiligen Länder zu komplexen umweltgerechten Produkten, die noch nicht wettbewerbsfähig exportiert werden. Diese Kennzahl hat sich als starker Indikator für die künftige «grüne» Wettbewerbsfähigkeit (GCI) erwiesen.
Welche Länder führen Ihre Rangliste an?
Obwohl alle Regionen und Länder über eine Art komparativen Umweltvorteil bzw. komparatives Umweltpotenzial verfügen, sind einige diesbezüglich doch schon wesentlich weiter als andere. So belegen Europa, Nordamerika, China, Japan und Indien unter den Regionen die vordersten Plätze in puncto «grüne» Komplexität, während Afrika, Australien und Teile Südamerikas ganz unten rangieren. Dieser Unterschied lässt sich teilweise damit erklären, dass die «grüne» Wettbewerbsfähigkeit eindeutig positiv mit dem Einkommensniveau zu korrelieren scheint.
Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass die meisten Länder mit einem unterdurchschnittlichen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auch im GCI unterdurchschnittlich abschneiden, wie zum Beispiel Brasilien. Die Länder mit einem höheren GCI-Wert sind tendenziell einkommensstärkere Nationen wie die USA, die Schweiz oder Singapur. Dennoch gibt es auch Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen, die überdurchschnittliche GCI-Werte aufweisen (etwa China), sowie einkommensstarke Länder mit relativ niedrigen GCI-Werten (zum Beispiel Australien und die Vereinigten Arabischen Emirate).
Sehen Sie das gleiche Muster, wenn es um die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit geht?
Ja, absolut. Der Unterschied ist noch ausgeprägter in Bezug auf das GCP, wo sich sehr abweichende Muster ergeben. So werden Asiens Exporte umweltfreundlicher, genauso wie jene in Südeuropa, wohingegen grosse Teile Europas und Nordamerikas bezogen auf das GCP etwas schlechter dastehen als gemessen an ihrem GCI. In Afrika und Südamerika variieren die Werte je nach Region. Den weltweiten Spitzenplatz bezüglich GCP belegt derzeit China, gefolgt von Italien und Spanien.
Wie steht die Schweiz in diesem Kontext da?
Wie gesagt, sind es Länder wie Deutschland, die USA und China, die den Ton angeben und die am meisten vom aktuellen Wandel zu einer «grünen» Wirtschaft profitieren. Die Schweiz ist zwar weiterhin sehr konkurrenzfähig bei einer Reihe von umweltfreundlichen Produkten wie Eisenbahnkomponenten und Ausrüstungen für die Biogaserzeugung. Dieser Umstand ist aber wohl mehr das Ergebnis der starken Stellung der Schweiz als Kompetenzzentrum im Bereich «grüner» Technologien und nicht als Produktionsstandort. Tatsächlich ist die Schweiz heute ein weltweit führender Kapitalgeber für die «grüne» Wirtschaft - nachhaltig verwaltete Vermögen machen mehr als 20 Prozent aller in der Schweiz verwalteten Gelder aus und wachsen um mehr als 30 Prozent pro Jahr.
Wo sehen Sie das grösste Potenzial in der Schweiz?
Die Schweizer Wirtschaft weist ein ungenutztes Potenzial bei erneuerbaren Energien auf. Eine Steigerung der Investitionen auf das Niveau wichtiger regionaler Konkurrenten wie Deutschland könnte der Schweiz eine noch grössere Energiesicherheit bieten und hat das Potenzial, «grüne» Energie in den wachsenden EU-Markt zu exportieren.
Was können Anleger aus diesen Informationen für ihre Investmententscheide ziehen?
Anleger, die am rasanten Wachstum sauberer Technologien partizipieren wollen, können sich auf GCI- und GCP-Werte stützen, um besser zu verstehen, welche Länder aktuell wettbewerbsfähige Branchen fördern und welche dies in Zukunft tun dürften. Diese Bewertungen sind jedoch nur eine Art von Indikator und keinesfalls erschöpfend oder normativ, wenn es darum geht, Anlage- oder politische Entscheidungen zu treffen. Der Zusammenhang wird besser verständlich, wenn man die «grüne» Wettbewerbsfähigkeit eines Landes mit seinen Unternehmensstrukturen in Beziehung setzt.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Im Sektor der erneuerbaren Energien leistet die Entwicklung von Windkraft- und Solarprodukten einen der grössten Beiträge zur «grünen» Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Hier wird für den Bau von Anlagen die grösste Anzahl spezifischer «grüner» Inputfaktoren benötigt. Institutionelle Anleger können eine Schlüsselrolle bei der Förderung des Ausbaus von Windkraft- und Solarkapazität spielen, denn sie bilden einen beträchtlichen Pool von privatem Kapital, das zunehmend in erneuerbare Energien gelenkt wird. Pure-Play-Unternehmen aus dem Windkraft- und Solarsektor bilden eine komplexe Wertkette, die entlang global integrierter Lieferketten operiert. Diese Unternehmen rücken immer stärker in den Fokus von Anlegern, die an der Energiewende teilhaben wollen.
Um die Perspektiven auf Länder- und Unternehmensebene zu verbinden, erstellt der Bericht eine weltweite Auswahl von bedeutenden Windkraft- und Solarunternehmen. Er identifiziert 93 Unternehmen aus 19 Ländern und vermittelt so ein Bild der Unternehmenslandschaft für die Windkraft- und Solarbranche. China, Deutschland, Japan, Südkorea, Taiwan und die USA verfügen in der Auswahl über die meisten produktherstellenden Unternehmen, von denen viele Bauteile für Solarkollektoren produzieren. China, die USA und Japan (bereits die Spitzenreiter im Solar-GCI-Ranking) sind mit ihren durchwegs hohen GCP-Rankings auf dem besten Weg, auf Länderebene auch die Komplexität bei Solarprodukten zu konsolidieren.
Link zum Disclaimer
Dr. Michael Urban ist stellvertretender Leiter des Nachhaltigkeitsresearch bei Lombard Odier. Er kam 2020 zum Team für Sustainable Investment Research, Strategy and Stewardship (SIRSS) von Lombard Odier. Bevor er zu Lombard Odier kam, war er Research Associate am Centre for the Environment der Universität Oxford, wo er mehrere Forschungsinitiativen im Rahmen eines vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts mit dem Titel «Finance and Development in the 21st Century» (2017-2020) leitete. Ausserdem ist er Mitautor des weltweit ersten Finanzatlas, der 2022 bei Yale University Press erscheinen soll. Er hatte verschiedene Lehraufträge an der University of Oxford und der Bristol University inne und arbeitete bei Pictet & Cie, wo er thematische und SRI-Aktienfonds betreute. Michael Urban hat einen BSc in Management von der HEC Lausanne, einen MSc in Umwelt, Politik und Globalisierung vom King's College London und einen PhD in Wirtschaftsgeographie von der Universität Oxford.