«Es gibt keinen Trade-Off zwischen ESG und Performance»

07.07.2020
Frau Roucher, der Claim in Ihrem Logo heisst «Investing in sustainability». Ist das die DNA Ihres Unternehmens?
Ja, das ist unsere DNA: Ziel von Mirova ist es, Anlagestrategien zu entwickeln und zu verwalten, die eine solide finanzielle Performance mit einem klaren ökologischen und sozialen Impact verbinden. Über unsere Anlageziele hinaus führen wir auch langfristige Dialoge mit den Unternehmen und Emittenten, in die wir investieren. Wir haben eine aktive Fürsprecherrolle bei den Aufsichtsbehörden, um eine nachhaltigere Finanzwirtschaft zu fördern. Wir glauben, dass der Finanzsektor das Schlüsselinstrument liefern kann, um unsere Wirtschaft nachhaltiger und integrativer zu gestalten.
Viele Fondsgesellschaften haben ESG für ihre Strategie entdeckt. Gibt es verschiedene Ansätze oder ist unter dem Strich alles das Gleiche?
Die Ansätze sind tatsächlich unterschiedlich. Die Hauptunterschiede lassen sich in drei Schlüsselbereiche einordnen:
1) Wie gross ist der Impact, der erzielt wird? Grundsätzlich geht es darum, Investitionen in Unternehmen zu vermeiden, die sich entgegen der Sustainable Development Goals (SDGs) - also der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung - ausrichten, oder aber in Unternehmen zu investieren, die zur Erreichung der SDGs beitragen.
2) Was sind die Absichten des Fondsmanagers in Bezug auf ESG? Steht ESG im Mittelpunkt des Anlageprozesses oder ist die ESG-Qualität ein Nebeneffekt innerhalb einer Anlagestrategie, die zum Beispiel qualitäts- und wachstumsbasiert ist? In einem solchen Fall bleibt die ESG-Qualität möglicherweise im Laufe der Zeit nicht konstant, was ein Risiko darstellt, auf das der Anleger achten muss.
3) Was beinhaltet eine Anlagestrategie zusätzlich in Hinblick auf die nachhaltige Entwicklung? Trägt eine bestimmte Strategie wirklich dazu bei, Geld und Ersparnisse auf eine nachhaltigere Wirtschaft umzuverteilen? Gibt es einen ausreichend starken Fokus auf innovative Geschäftsmodelle oder innovative Fondsstrukturen?
Was sollten Investoren wissen und beachten?
ESG und Nachhaltigkeit müssen Bestandteile unseres täglichen Lebens werden. Covid-19 hat uns wieder daran erinnert:
1) Covid-19 unterstreicht, dass wir unser Verhältnis zur Natur überdenken müssen. Das Virus könnte in Zusammenhang mit einem menschlichen Fehler stehen. Der Verdacht liegt nahe, dass die Abholzung von Wäldern die Entstehung von Covid-19 ermöglicht hat. Wie die meisten Epidemien in der Geschichte der Menschheit und drei Viertel aller neu auftretenden Krankheiten kann es sich bei Covid-19 tatsächlich um eine Zoonose handeln, eine Krankheit, die mit der Übertragung durch Haus- oder Wildtiere zusammenhängt. Das Virus drängt uns aus unserer Haltung des «Herrn und Meisters der Natur» heraus, um uns als integralen Bestandteil der Natur zu sehen. Wir sind von ihr abhängig. Die biologische Diversität zu erhalten, bedeutet, für uns selbst zu sorgen. Dies ist ein Paradigmenwechsel.
2) Die Pandemie hat soziale Ungleichheiten noch offensichtlicher gemacht. Viele vormals unsichtbare Berufsgattungen (Kassierer, Verkäufer, Transporteure, Haushaltshilfen, Müllmänner) haben in der Zeit des Lockdowns eine wichtige Rolle für die Gesellschaft gespielt. Diese Berufsgattungen blieben am unteren Ende der Lohnskala, während die privilegierteren Arbeitskräfte ihren Job von zu Hause aus erledigen konnten - ohne direkte Gesundheitsrisiken. Soziale Ungleichheiten nehmen zu, und es könnte zu einer grösseren sozialen Krise kommen, wenn wir die Wirtschaft nicht integrativer und gerechter gestalten.
3) Die Grenzen der Globalisierung werden auf zwei Ebenen bestätigt: i) Ausbreitung der Epidemie, aber auch ii) zu starke Abhängigkeit von den verschiedenen Weltwirtschaften, was zu Versorgungsschwierigkeiten in strategischen/lebenswichtigen Sektoren wie der Medizin führt.
Über die aktuelle Krise hinaus ist die Regulierung in Bezug auf Nachhaltigkeitskennzahlen (zum Beispiel Kohlenstoffemissionen im Bau- und Mobilitätssektor) strenger geworden und hat daher das Wachstum von Unternehmen gefördert, die Produkte und Dienstleistungen anbieten, die diesen Vorschriften entsprechen. Für Investoren wie Fondsmanager gibt es jetzt einen ausreichend grossen Pool an profitablen und schnell wachsenden Unternehmen, die positiv gegenüber den SDGs exponiert sind und gute Investitionsgelegenheiten darstellen. Infolgedessen haben ESG-Fonds in den letzten ein, drei, fünf Jahren im Aktienbereich im Durchschnitt leicht besser abgeschnitten als Nicht-ESG-Fonds, was ein Beweis dafür ist, dass es keinen Trade-off zwischen ESG und finanzieller Performance gibt.
Haben Fonds ohne das Label ESG in Zukunft überhaupt noch eine Chance?
Neue Labels werden herausgegeben, auf nationaler und bald auch auf regionaler Ebene. Auch wenn es noch viele Unterschiede zwischen den Labels gibt, so sind diese doch der Schlüssel zur Festlegung langfristiger Standards für ESG-Investitionen. Es wird einige Jahre dauern, bis wir uns solchen Standards annähern, aber ähnlich wie es bei den Bio-Lebensmittelsiegeln der Fall war, werden wir wahrscheinlich auch bereit sein, uns bei unseren finanziellen Investitionen auf solche Labels zu verlassen.
Wird sich ESG weiterentwickeln oder ist punkto Know-how das Ende der Fahnenstange erreicht?
Meine Überzeugung ist, dass sich ESG weiter und schneller entwickeln wird als je zuvor. Dies insbesondere, weil die Gesellschaft von heute ein viel besseres Verständnis für die Fragen hat, um die es bei der nachhaltigen Entwicklung geht. Und weil Investitionen in nachhaltige Initiativen mit einer soliden finanziellen Leistung vergütet werden können.
Worauf sollten Anleger achten, wenn sie dann nach nachhaltigen Anlagen suchen?
Anleger sollten bedenken, dass die Anlagephilosophie über alle Anlageklassen hinweg identisch sein muss, wobei es jedoch Unterschiede in der Umsetzung gibt. Im Bereich von Private Equity und Real Assets kann der Impact sehr greifbar sein, während in einem grossen börsennotierten Unternehmen die Resultate eher unterschwellig sichtbar werden. Es geht darum, massiv Kapital in nachhaltige Projekte und Unternehmen umzuschichten, und zwar über das gesamte Spektrum der Anlageklassen hinweg. Losgelöst von Investments sollten Anleger auch Vermögensverwalter bevorzugen, die «Engagement» bei Kapitalgebern und allen Interessengruppen betreiben und zum Beispiel bei der Gestaltung neuer Gütesiegel und regulatorischer Anreize für nachhaltige Finanzen helfen.
Link zum Disclaimer
Anne-Laurence Roucher ist Deputy CEO von Mirova, Head of Development, Finance and Operations seit Mirova’s Gründung. Sie begann ihre Karriere 1999 als Projektmanagerin für ein Unternehmen, das dazu beitragen wollte, Menschen, die über einen längeren Zeitraum arbeitslos gewesen sind, eine Beschäftigung im Gastgewerbe zu ermöglichen. Ziel war es, soziale und wirtschaftliche Leistung miteinander in Einklang zu bringen.
Im Jahr 2000 trat Anne-Laurence Roucher der Unternehmensberatungsfirma AT Kearney als Business Analyst bei und betreute im Anschluss als Senior Associate Finanzinstitutionen. In dieser Funktion arbeitete sie an einem breiten Spektrum von Strategie-, Entwicklungs- und Restrukturierungsprojekten für Vermögensverwalter, Versicherer, Private-Equity-Firmen und Investmentbanken. Sie kam 2005 zu Natixis, bevor sie 2007 Leiterin der strategischen Planung bei Natixis Asset Management wurde. In dieser Position spielte sie eine entscheidende Rolle beim Ausbau der Aktivitäten im Bereich der verantwortungsvollen Finanzierung. Diese strategische Priorität führte zur Schaffung einer Geschäftseinheit innerhalb von Natixis Asset Management, die sich verantwortungsbewussten Investitionen widmet. Diese Einheit entwickelte sich später zu Mirova.
Anne-Laurence Roucher besitzt einen Master-Abschluss in Management der ESCP Europe (École supérieure de commerce de Paris) und ist ausserdem Absolventin der Harvard Business School (General Management Program).