«Es ist Zeit, die Altersvorsoge grundlegend zu modernisieren»

18.08.2021
Herr Lötscher, PensExpert ist einer der Pioniere in der Schweiz, wenn es um Vorsorge-Lösungen geht - besonders im überobligatorischen Bereich. Welche Visionen treiben Sie aktuell voran?
Die persönliche Vorsorge- und Steuerberatung ist seit Gründung von PensExpert vor mehr als 20 Jahren unser strategisches Kernelement. Am persönlichen Ansatz unserer Beratung halten wir auch im digitalen Zeitalter fest. Wir wollen und müssen unsere Kundinnen und Kunden kennen, damit wir sie richtig beraten können. Allerdings wollen wir die Beratung digital unterstützen und mit einem Vorsorgecockpit sicht- und planbarer machen. Damit sollen Kundinnen und Kunden ein besseres Gefühl dafür bekommen, wie sie die finanzielle Grundlage für ihren dritten Lebensabschnitt mitgestalten können.
Die moderne Arbeitswelt ist von mehr Unstetigkeit geprägt - Stellenwechsel, Sabbaticals und Teilzeitarbeit sind heute gang und gäbe. Mit welchen Ansätzen will PensExpert den sich verändernden Lebensrealitäten der Arbeitnehmenden Rechnung tragen?
Während eines beruflichen Unterbruchs ermöglichen unsere Produkte im Bereich Freizügigkeit heute verschiedene attraktive Risikoabsicherungen gegen Tod und Invalidität. Was aber fehlt, ist die Absicherung oder besser gesagt Vorsorgemöglichkeiten für eine Auszeit. Klar, man kann privat auf eine Auszeit hin sparen. Wieso aber sollte man dafür nicht gezielt privilegiert sparen können? Es ist einfach eine Tatsache, dass es Phasen im Berufsleben gibt, in denen man mehr leisten kann, muss oder will. Sich danach aber eine bewusste Pause zu gönnen, sich um die Betreuung von Angehörigen zu kümmern oder Zeit in eine Weiterbildung zu investieren ist aktuell in der Vorsorge nicht vorgesehen. Das heutige System ist voll und ganz auf den dritten Lebensabschnitt - sprich die Altersvorsorge - ausgerichtet.
Das klingt sehr überzeugend in der Theorie und würde Rücksicht auf die neuen Lebensentwürfe der jüngeren Bevölkerung nehmen. Gibt es dazu bereits Erfahrungen aus der Praxis?
Deutschland ist hier sehr fortschrittlich mit sogenannten Zeitwertkonten. Unsere Tochtergesellschaft in Deutschland bietet äusserst erfolgreich eine volldigitalisierte Lösung für in Deutschland ansässige Unternehmen an. Damit können Mitarbeitende auch steuerlich privilegiert Arbeitszeit in Form von Geld ansparen. Konkret: Ich arbeite Überzeit, lasse mir diese auf mein Zeitwertkonto auszahlen und finanziere mir später damit meine Auszeit. Will man dies im heutigen System in der Schweiz tun, wird man gleich doppelt bestraft: Einerseits schmälert die Steuerprogression das Vermögen, andererseits muss man unter anderem auch die AHV während der Erwerbspause selbstständig finanzieren. Diese neue Form der Vorsorge am Vorbild Deutschland wäre nicht mehr nur auf die Rentenleistungen im Alter, sondern auf Lebensphasen ausgerichtet. Wir von PensExpert wären bereit, dieses Modell auch in der Schweiz zu lancieren. Im Moment sind wir aber noch daran, das Thema auf politischer Ebene und in der breiteren Bevölkerung bekannt zu machen.
Weg von der reinen Altersvorsorge, hin zum Lebensphasen-Vorsorgemodell also. Das setzt allerdings grosse Sachkenntnis der einzelnen Vorsorgenehmenden voraus. Gibt es Studien, die den Kenntnisstand der Schweizer Bevölkerung bezüglich Vorsorge untersucht haben?
Als Hauptwirtschaftspartner haben wir gemeinsam mit der Hochschule Luzern, unter Leitung von Frau Prof. Dr. Yvonne Seiler Zimmermann, eine Vorsorgestudie zum Thema Financial Literacy mit Fokus Altersvorsorge lanciert. Diese Studie wird erstmals schweizweit Klarheit darüber schaffen, wie gut die Kenntnisse der Schweizerinnen und Schweizer zu Vorsorgefragen, Anlageinstrumenten und den damit verbundenen finanziellen Risiken und Chancen sind. Die Ergebnisse dürften es uns erleichtern, die Wissenslücken der Versicherten gezielt zu füllen. Wir spüren ganz klar das Bedürfnis, dass sich die Bevölkerung mehr mit dem Thema Vorsorge auseinandersetzen will, persönlich wie politisch. Wir wollen die Menschen in der Schweiz damit darin unterstützen, heute die richtigen Entscheide für ihre Zukunft zu fällen. Am VorsorgeDIALOG am 26. August 2021 werden die Ergebnisse in Rotkreuz vorgestellt.
Das mangelnde Vorsorgewissen ist aber wohl kaum die einzige Baustelle des Schweizer Vorsorgesystems. Wo sehen Sie aktuell ebenfalls Handlungsbedarf?
Das Vorsorgesystem basiert unverändert auf dem Lebensentwurf der Sechzigerjahre. Der Mann arbeitet Vollzeit, die Frau kümmert sich um die Familie, selbstverständlich basierend auf einem Trauschein. Das ist unter anderem ein Problem für alle Teilzeitbeschäftigten, denn einen auf das Arbeitspensum abgestimmten Koordinationsabzug in der 2. Säule gibt es nicht. Die aktuellen Reformbemühungen sehen das ebenfalls nicht vor. Zudem leben heute viele Menschen nicht mehr in traditionellen Familien. Und besonders stossend ist die gesetzlich nicht vorgesehene Umverteilung von den Beitragszahlern zu den Rentenbezügern.
Probleme über Probleme…
… die Aufzählung kann beliebig fortgesetzt werden. Wieso etwa ist eine Witwe anders abgesichert als ein Witwer? Wieso wird die Pensionskasse im Unterschied zur AHV nur im Falle einer Scheidung aufgeteilt?
Die Politik tut sich sehr schwer damit, Probleme im Vorsorgebereich anzupacken. Wie könnte das besser werden?
Wenn ich die politischen Reformbemühungen beobachte, dann frage ich mich, ob es nicht an der Zeit wäre, die Gesetze komplett neu zu formulieren. Die Reformen in der 1. und 2. Säule nehmen zwar wichtige Punkte auf, aber am Ende ist und bleibt es ein Flickenteppich. Die Politik müsste sich mit Blick auf die vielen Stellenwechsel auch intensiver damit auseinandersetzen, ob es Sinn ergibt, die Pensionskassenmitgliedschaft an den Arbeitgeber zu knüpfen. Die Gesellschaft ist heute vielschichtiger. Das zeigt sich in modernen Partnerschaftskonstellationen wie beispielsweise Patchwork- und Regenbogenfamilien, aber auch in der Bindung zum Arbeitgeber. Selbstbestimmung, Flexibilität und Individualität wollen heute gelebt werden. Diesem gesellschaftlichen Bedürfnis muss die Politik mehr und konkret Beachtung schenken.
Link zum Disclaimer
Rafael Lötscher ist seit Anfang Januar 2021 CEO von PensExpert. Zuvor hatte er während zehn Jahren die Fachgruppe Sozialversicherungen und Vorsorge der BDO Schweiz unter sich und war Stellvertretender Niederlassungsleiter BDO Zug. Als Partner von BDO hat er ein breites Fachwissen im Bereich Treuhand/Steuern aufgebaut und dieses auch als Referent über viele Jahre weitergegeben.