«ETFs werden verkauft wie vor 10 Jahren»

20.11.2015
Herr Borini, Sie zählen als Herausgeber der bekannten ETF-Publikation «10×10» zu den bestinformierten ETF-Kennern auf dem Schweizer Finanzplatz. Sind Sie glücklich über alles, was in der Branche aktuell so läuft?
Grundsätzlich ja. Der Werkzeugkasten wurde in diesem Jahr mit vielen nützlichen Tools weiter aufgefüllt. Denken Sie mal daran, dass ein Anleger heute mit zwei Transaktionen fast die ganze Aktien- und Fixed-Income-Welt, währungsgesichert in Franken, ins Portfolio ordern kann und das für rund 30 Basispunkte. Verfechter von Minimum-Varianz finden vielseitige ETF-Lösungen, die einfach per Mausklick gekauft werden können. Aber die Branche muss aufpassen, dass sie durch die Komplexität den Anleger nicht verliert und gerade deswegen muss der Anlegerservice neu angedacht werden. Denn letztlich ist ein ETF austauschbar und damit auch der Anbieter.
Sie finden also einige Haare in der Suppe…
Zum Glück nur Haare und keine Haarbüschel. ETF ist das erfolgreichste Finanzprodukt der letzten zwei Dekaden. Doch mit der steigenden Komplexität geht ein wichtiger Grundsatz von ETFs, nämlich Einfachheit, verloren. Grundsätzlich darf man schon aufwändigere Indizes mit ETFs abbilden, doch dann erwarte ich von der Branche entsprechende Hilfestellungen. Hier ist die Branche stehen geblieben.
Die Industrie feiert die Produktentwicklungen bei Smart Beta und Währungsabsicherung. Finden Sie diese neuen Angebote nicht auch positiv?
Natürlich. Ich finde die stark ausgebauten währungsgesicherten ETFs für Franken-Anleger eine sinnvolle Sache. Auch viele der Smart Beta ETFs sind meist intelligente Portfoliobausteine. Doch hier muss man die Spreu vom Weizen trennen, nicht alles funktioniert. Die Kosten wurden reduziert und die Liquidität ist auch in volatilen Zeiten intakt. Ein gutes und jederzeit verfügbares Angebot ist das eine, aber wie man mit dem Angebot umgeht, ist das andere. Egal, wie komplex ein ETF ist, dieser muss in fünf Punkten erklärt werden können, sonst hat das Produkt das Ziel verfehlt. Und die Produkttransparenz darf dabei nie leiden. Das bedingt ein neues Denken im Vertrieb, in der Kommunikation und in den digitalen Hilfsmitteln für den Investor. Denn bankennahe Angreifer - die Fintech Startups - stehen bereit.
Es müsste also noch mehr Aufklärungsarbeitet geleistet werden.
Genau! Ich wette mit Ihnen, dass ich innert einer Stunde ein Dutzend Vermögensverwalter und Berater finde, die mir nicht einen Low Volatility ETF auf den MSCI ACWI Index mit fünf einfachen Punkten erklären können: Warum MSCI ACWI und nicht MSCI World, warum Low Volatility und nicht Marktkapitalisierung, warum gibt es Sektoren- oder Länderverschiebungen im Low-Vola-Produkt oder wie bettet man einen solchen ETF in ein Portfolio ein. Einfache aber relevante Fragen. Das Fatale ist, wenn ein Anleger nicht genau versteht, was er kauft, kann es zu unschönen Überraschungen kommen und letztlich zu einem negativen Erlebnis. Das heisst, die Branche muss im Service besser, moderner und vor allem einfacher werden, denn die Produkte wurden kompliziert.
Haben Sie konkrete Vorschläge?
Differenzieren kann sich ein Anbieter fast nur noch über den Service, den er den Investoren bietet. Doch in diesem Bereich hat sich kaum ein Anbieter an die neue Realität angepasst. ETF ist ein Finance-2.0-Produkt, Finance 2.0 heisst: Demokratisierung des Anlegens in einer digitalen Welt, und zwar auf allen Kanälen und für alle Zielgruppen. Das bedeutet: Aussagekräftige Factsheets auf täglicher Basis sind überhaupt keine Sache, nur eine Verständnisfrage. Intelligente Webseiten, und solche sehe ich hierzulande kaum, sind keine Kostenfrage, sondern eine Servicefrage. Und clevere Tools- und Kommunikationslösungen, dabei geht es nicht um irgendwelche Broschüren und Newsletters, sollen den Investor im Entscheid und während der ganzen Produkt-Haltedauer massgeblich unterstützen. Heute hat man Daten und der Kunde erwartet von der Industrie, basierend auf seinen Angaben, die richtigen Dienstleistungen und Mehrwerte.
Das kostet aber viel Geld und nur einige wenige Emittenten haben belastbare Budgets.
Wenn Fondsanbieter ganze Trams bemalen können, dann muss Budget vorhanden sein. Wir reden heute von der Demokratisierung des Anlegens, da herrschen neue Spielregeln, doch ETFs werden verkauft wie vor 10 Jahren. Vielleicht übertreibe ich jetzt, aber es geht in diese Richtung. Die ganze Asset-Management-Branche wird in den nächsten Jahren umgekrempelt, ob man das nun glauben will oder nicht: Digitale Transformation, neues Kundenverständnis, Robo Advisors, Artificial Intelligence, Social Web und ganze neue Technologien - wie Blockchain - sind die Stichworte. Der Kunde erwartet ein neues Kundenerlebnis, auch von den ETF-Anbietern.
Es sind nur noch wenige Tage bis zum Jahresende. Was wünschen Sie sich für den Schweizer ETF-Markt in 2016?
Ich wünsche mir: Einfachheit in der Kommunikation, Treue bei den ursprünglichen Produktmerkmalen und fantastische analoge und digitale Hilfestellungen. Und natürlich ein weiter wachsendes Interesse bei Anlegern, doch das kommt nicht einfach so. Dafür muss man was tun, aber dazu sollten auch neue Wege einschlagen werden. Im Jahr 2007 hat auch niemand auf das iPhone gewartet. Es gibt enorm viele Chancen und diese gilt es zu packen. Und bringen wir wieder alles zum Positiven: ETFs sind ein wunderbares Produkt für ganz viele Portfolioideen. Der Markt ist reif, um aus ETFs noch vielmehr rauszuholen.
Rino Borini ist Mitgründer und CEO der financialmedia AG in Zürich. Das unabhängige Medienhaus gibt verschiedene Publikationen im Wirtschafts- und Finanzbereich heraus und veranstaltet zahlreiche Veranstaltungen und Konferenzen. Borini leitet auch den Certificate of Advanced Studies (CAS) «Digital Finance» an der Hochschule Zürich. Davor war Rino Borini in leitenden Funktionen in der Finanzindustrie tätig. Der Certified European Financial Analyst (CEFA) eignete sich während mehreren Jahren ein fundiertes Wissen über Banking und Kapitalanlagen an.