«Grösster Teil des Ausverkaufs bei Anleihen liegt hinter uns»

10.06.2022
Herr Kopf, an den Anleihenenmärkten ist es zu einem markanten Kurseinbruch seit Jahresanfang gekommen. Was waren die Auslöser?
Es gibt zwei Auslöser: Einmal der massive Inflationsanstieg über die vergangenen 18 Monate, der auch uns - was Ausmass und Geschwindigkeit angeht - überrascht hat. Der wichtigste Preistreiber ist die Schieflage zwischen starker gesamtwirtschaftlicher Nachfrage und knappem Angebot. Das gilt besonders im Güterbereich, was jeder weiss, der versucht, eine PlayStation 5 zu bestellen. Auch der Preisauftrieb bei den Rohstoffen ist stärker als gedacht. Das hat sich schon vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und dem neuen Pandemieausbruch in China gezeigt. Der Ukraine-Krieg und die Sorge vor den Auswirkungen von Sanktionen auf russische Energieexporte haben dem Preisauftrieb noch zusätzlichen Schub verliehen.
Und der zweite?
Das ist die geldpolitische Wende. Lange Monate haben die Notenbanken im Westen der immer weiter ansteigenden Inflation weitgehend tatenlos zugesehen. Die Inflationsraten in den USA haben mittlerweile die höchsten Werte seit 1981 erreicht. In Deutschland ist die Inflationsrate sogar höher als während des Ölpreisschocks von 1973. Jetzt haben wir einen Punkt erreicht, wo entschiedenes Handeln gefordert ist, um den Verlust des Ankers stabiler Inflationserwartungen zu vermeiden. Das entscheidende Stichwort lieferte Jerome Powell, der Präsident der US-Notenbank Fed, am 21. März 2022, als er von einer zügigen Straffung sprach. Aufgrund der inzwischen bereits vollzogenen und der geplanten weiteren Leitzinserhöhung sind auch die Kurse an den Anleihemärkten unter Druck geraten und spiegelbildlich dazu die Renditen angestiegen. Denn wenn ein Unternehmen demnächst auf einem Girokonto wieder positive Zinsen bezahlt bekommt, warum soll es dann Bundesanleihen mit negativen Renditen kaufen?
Was erwarten Sie für die weitere Entwicklung?
Unseres Erachtens liegt der Höhepunkt des Preisauftriebs in den USA hinter uns. Allerdings dürfte die Inflation in Europa zunächst noch weiter zulegen. Wir rechnen erst ab Ende dieses Jahres mit einem deutlichen Rückgang der Inflationsraten im Euroraum. Insgesamt halten wir es für unwahrscheinlich, dass sie in den nächsten zwei bis drei Jahren unter 2 Prozent fallen werden. Was die Geldpolitik betrifft, dürfte die US-Notenbank Fed bis zum Jahresende das Zielband für den Geldmarktsatz auf 2.5 bis 2.75 Prozent anheben, und nächstes Jahr dann nochmal Richtung 3 Prozent. Die Europäische Zentralbank wird ihre Leitzinsen ebenfalls anpassen. Wir denken, dass sie ihren Einlagesatz bis Ende 2022 von derzeit -0.50 Prozent auf +0.50 Prozent anheben wird und nächstes Jahr auf 1.0 Prozent gehen könnte.
Was spricht vor diesem Hintergrund dafür, dass sich Anleger den Obligationenmärkten wieder zuwenden könnten?
Wir sind der Ansicht, dass der grösste Teil des Ausverkaufs an den Kern-Zinsmärkten hinter uns liegt. Der Anleihemarkt preist mittlerweile den von uns erwarteten Anstieg der Leitzinsen weitgehend ein. Es könnte noch etwas Gegenwind geben, wenn die Federal Reserve damit anfängt, Anleihen aus ihren Ankaufprogrammen am Markt zu veräussern, und wenn die EZB ihr Ankaufprogramm einstellt. Insgesamt dürften die Renditen von Staatsanleihen der Kernmärkte bis zum Jahresende aber kaum noch ansteigen.
Das Bild hellt sich also für Anleihe-Investoren wieder etwas auf?
Die erfreuliche Nachricht ist: Durch den deutlichen Anstieg der Marktzinsen gewinnen Anleihen wieder an Attraktivität. Wir haben im Euroraum inzwischen ein Renditeniveau erreicht, das es letztmals im Jahr 2012 gab. Unternehmensanleihen guter Bonität werfen etwa zwei Prozent ab und Anleihen von Unternehmen mit schlechteren Ratings rund sechs Prozent. Diese höhere laufende Verzinsung ist interessant und bietet auch einen grösseren Puffer gegen Kursverluste als früher - für den Fall, dass die Marktzinsen doch noch weiter ansteigen sollten.
Welche Marktbereiche sind aus Ihrer Sicht besonders spannend?
Für besonders attraktiv halten wir die Anleihen aus Schwellenländern. Anlagen in Hartwährungsanleihen von Schwellenländern haben seit Jahresbeginn knapp 16 Prozent an Wert verloren und die Märkte für Lokalwährungsanleihen haben in Euro gemessen knapp sechs Prozent nachgegeben. Hier sehe ich Chancen auf eine Erholung. Viele Zentralbanken haben bereits deutliche Zinserhöhungen vorgenommen. Die Inflation könnte in einigen Ländern bald ihren Höhepunkt erreichen.
Ein Beispiel: brasilianische Staatsanleihen in Landeswährung haben Renditen von etwa 12 Prozent. Die Zentralbank hat ihren Leitzins schon von 2.0 auf 12.75 Prozent erhöht und steht kurz vor dem Ende des Zinserhöhungszyklus. Die Inflation sollte im kommenden Jahr von 12 auf etwa 5 Prozent sinken. Das bedeutet: Die Anleihen bieten einen Realzins von mehr als 7 Prozent. Gleichzeitig werden die Rohstoffpreise wahrscheinlich nicht so schnell wieder sinken, da viele Importe aus Russland ersetzt werden müssen. Und sobald China den Corona-Lockdown beendet, sollte die Nachfrage nach Rohstoffen weiter steigen, was die Rohstoffpreise stützt. Davon profitiert Lateinamerika und insbesondere Brasilien. Bei den derzeitigen Rohstoffpreisen wird Brasilien einen Handelsbilanzüberschuss von umgerechnet fast 80 Mrd. Euro erzielen, was auch die Währung stützen dürfte.
Link zum Disclaimer
Christian Kopf leitet das Anleihenfondsmanagement von Union Investment. Neben der Aufsicht über die weltweite Anlage in Staats- und Unternehmensanleihen, im Geldmarkt und in strukturierten Finanzprodukten ist Kopf Mitglied des Union Investment Committee, das Leitplanken für die anlageklassenübergreifende Kapitalmarktstrategie von Union Investment setzt. Bevor er 2017 zu Union Investment kam, war Christian Kopf elf Jahre im Londoner Büro von Spinnaker Capital tätig, wo er als Partner für die globale Anlagestrategie und die Risikoallokation in Staatsanleihen, Zinsprodukten und Währungen der europäischen und asiatischen Zeitzonen verantwortlich war. Zuvor war er als Senior Portfoliomanager bei DWS Investments in Frankfurt tätig und führte Nachhaltigkeitsstudien am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie durch. Christian Kopf schloss sein Studium an der Universität Witten/Herdecke als Diplom-Ökonom ab und ist CFA Charterholder.