«Ich würde in China investieren»

22.06.2022
Herr Liew, die Wirtschaft Chinas und der USA durchlaufen derzeit eine unterschiedliche Entwicklung. Worauf ist dies zurückzuführen?
Chinas steht im Wirtschaftszyklus an einem anderen Punkt als die USA. Während es in den USA um Inflation und Zinsen sowie einen stärkeren US-Dollar geht, steht in China das Wachstum im Vordergrund. China wird dieses Jahr stärker als die USA wachsen. In einzelnen Ländern Asiens sind Inflation und steigende Zinsen ebenfalls ein Thema geworden. Der Schuldendienst ist teurer geworden. Sri Lanka ist das erste Schwellenland, das Konkurs gegangen ist.
Die wirtschaftlichen Konsequenzen des Kriegs in der Ukraine sind inzwischen weltweit zu spüren. Wie zeigen sie sich in Asien?
Zum einen gibt es Folgen, die alle Länder betreffen, wie die steigenden Rohstoffpreise. Aus asiatischer Perspektive ist festzustellen, dass die Bindungen insbesondere China und Indiens zu Russland enger geworden sind. Indien ist seit Jahrzehnten ein guter Abnehmer russischer Produkte und profitiert nun wie China von der Möglichkeit, Erdöl günstig kaufen zu können. In politischer Hinsicht ist China vom Westen kritisiert worden, dass es nicht deutlicher gegen Russland Stellung genommen hat. Doch in Asien gibt es wenig anti-russische Einstellung. Ich würde die Haltung als neutral bezeichnen.
Ist die Gefahr gestiegen, dass China mit der Einverleibung Taiwans ernst macht?
Das wird meines Erachtens nicht geschehen - gerade wegen des Ukrainekrieges. China sieht, wie entschlossen der Westen mit Wirtschaftssanktionen auf die Invasion durch Russland reagiert hat. Die Wirtschaft in China würde unter einem Krieg sehr leiden, denn die westlichen Länder sind die wichtigsten Kunden. Zudem produziert Taiwan über die Hälfte der Halbleiter weltweit. Da hätte die Bombardierung von Fabriken grosse Auswirkungen auf die Wirtschaft weltweit. Dasselbe gilt für den Finanzsektor. China ist weltweit in die Finanzmärkte eingebunden. Auch aus militärischer Sicht ist kaum mit einer Invasion zu rechnen. Im Gegensatz zur Ukraine ist Taiwan eine Insel, die schwer anzugreifen ist. Zudem hat China keine grosse Erfahrung, was Kriegsführung betrifft. Auch ist ihre Armee weniger gut aufgestellt als die von Russland.
Wie hat sich die Rolle Hongkongs entwickelt?
China hat es zwar geschafft, die Opposition zum Schweigen zu bringen und demokratische Bemühungen niedergeschlagen. Hongkong ist aber immer noch das wichtigste Finanzzentrum Asiens und für Chinesen das Offshore-Zentrum erster Wahl. Für das Investment Banking gilt das Gleiche: Wer in China Geschäfte machen will, kommt um eine Präsenz in Honkong nicht herum. Für die Expats ist das Leben aufgrund der harten Corona-Reiseregeln mühsamer geworden, weil sie bei der Einreise in die Quarantäne müssen. Das schreckt viele ab. Einige ziehen jetzt nach Singapur. Das hat zu einer langen Warteliste bei internationalen Schulen geführt.
Wie geht Asien mit Kryptowährungen um?
Die Regulierungsbehörden sind generell strikter als in Europa. In Singapur beispielsweise ist jegliche Werbung für Kryptowährungen verboten, sei es im Fernsehen oder anderen Medien. Der Grund liegt nicht in einem einzelnen Auslöser, beispielsweise ein Debakel mit einer Kryptowährung. Vielmehr, weil diese Währungen populär wurden, aber kleinere Anleger über wenig Fachwissen verfügen. Das Werbeverbot richtet sich deshalb nicht an die professionellen Anleger, sondern dem Schutz der nicht-professionellen Anleger. Kryptowährungen sind nicht verboten.
Angenommen ich hätte 100’000 US-Dollar zur Verfügung. Wo in Asien soll ich investieren?
In China. Das Land hat wirtschaftlich gesehen zwei schlechte Jahre hinter sich und bietet wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen. Zudem hat der chinesische Aktienmarkt 2021 underperformt. 2022 hat er sich besser entwickelt als die USA. Ich erwarte Steigerungen sowohl bei Aktien als auch Obligationen. Aus einer Risiko-Ertrags-Perspektive sind Wertschriften in China sehr attraktiv.
Link zum Disclaimer
Daryl Liew ist Chief Investment Officer (CIO) für Reyl Singapore. Er ist an der Asset-Allokation beteiligt und hat ferner eine Aufsichtsfunktion, um sicherzustellen, dass die Anlageentscheidungen den Erwartungen der Kunden entsprechen. Von 2002 bis 2010 arbeitete er bei Providend Ltd in Singapur und war zuletzt in der Generaldirektion für die Investments verantwortlich. In dieser Eigenschaft war er auch Mitglied des Investitionsausschusses des Unternehmens und verwaltete sowohl die Portfolios von Providend als auch Kundenkonten. Er geniesst allgemeine Anerkennung und gehört zu den Verfassern des «Singapore Master Financial Planning Guide». Aus seiner Feder stammen ferner zahlreiche Artikel über die Grundlagen und Trends im Investmentsektor. Daryl Liew besitzt einen Master in Business Management, Fachgebiet Finanzwesen, des Asia Institute of Management (Philippinen, 2002). Er verfügt ferner über eine Zulassung als CFA (2005).