«Netto-Null ist ein allumfassendes Thema über alle Sektoren und alle Anlageklassen hinweg»

Head of Sustainable Investment Research & Strategy
Lombard Odier, Genf
lombardodier.com
04.06.2021
Herr Dr. Kaminker, Sie bezeichnen den Übergang zu einer globalen Wirtschaft mit Netto-Null-Treibhausgasemissionen als die entscheidende Herausforderung unserer Zeit. Warum?
Im Jahr 2019 wurden 52 Gigatonnen Kohlendioxid emittiert. Ausgehend von der derzeitigen Emissionsrate verbleiben uns noch weniger als zehn Jahre unseres Kohlendioxidbudgets, bevor wir bis zum Ende des Jahrhunderts eine globale Erwärmung von 1.5 Grad Celsius erreichen. Eine Verlangsamung der Emissionstätigkeit wird diese Krise nicht lösen. Nur ein Emissionsstopp kann helfen. Kein Sektor wird davon unberührt bleiben, da sich Unternehmen in allen Sektoren und Regionen der Herausforderung stellen müssen, um die Netto-Null-Ziele und das Ziel des Pariser Abkommens, die globale Erwärmung bis 2050 auf 1.5 Grad Celsius zu begrenzen, zu erreichen. Wir gehen davon aus, dass dieser volkswirtschaftliche Wandel einen Wert von rund 5.5 Billionen US-Dollar pro Jahr hat und sich, wenn er klug durchgeführt wird, als äusserst leistungsfähige Plattform für nachhaltiges Wirtschaftswachstum und als Motor für die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohlstand erweisen wird.
Was treibt diese Entwicklung an?
In aller Welt bemühen sich die Regierungen, den Klimawandel zu bekämpfen: Mehr als 125 Länder haben sich zu Netto-Null-Zielen verpflichtet und die USA sind dem Pariser Abkommen wieder beigetreten. Heute sind fast 80 Prozent des globalen BIP durch eine Netto-Null-Zusage abgedeckt, im letzten Jahr waren es noch rund 18 Prozent. Wir erwarten, dass die UN-Klimakonferenz (COP 26) im November den Ehrgeiz der Regierungen bei ihren Klimazusagen und deren Umsetzung in Vorschriften weiter erhöhen wird. Der Übergang zu Netto-Nullenergie wird auch durch starke Marktkräfte vorangetrieben. Sinkende Technologiekosten ermöglichen mehr Unternehmen die Dekarbonisierung durch eine bessere Wirtschaftlichkeit voranzutreiben - während das Reputationsrisiko für diejenigen steigt, die nicht schnell genug umsteigen: Wenn saubere Technologien billiger werden, ändern die Verbraucher ihre Präferenzen entsprechend. Diese Kräfte bilden eine mächtige Rückkopplungsschleife und werden das Mittel sein, durch das Billionen von Dollar an Wert über Branchen und Märkte hinweg geschaffen und vernichtet werden.
Welche Verantwortung sehen Sie gegenüber Ihren Kunden?
Unsere treuhänderische Pflicht ist es, unseren Kunden dabei zu helfen, die Risiken zu managen und die Anlagechancen zu nutzen, die mit dem Wettlauf zu Netto-Null einhergehen. Aus diesem Grund haben wir dem Aufbau von Kohlenstoff-Expertise Priorität eingeräumt, um Kunden zu helfen, klare Wege durch diesen beispiellosen Übergang zu finden. Netto-Null oder Net Zero ist ein allumfassendes Thema über alle Sektoren und alle Anlageklassen hinweg. Wir haben eine Methodik entwickelt, die auf den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert und zukunftsweisend ist. Sie ermöglicht es Investoren, über die blosse Analyse von CO2-Fussabdrücken oder die Fokussierung auf kohlenstoffarme oder kohlenstoffreiche Branchen hinauszugehen und eine gründliche Analyse durchzuführen, die uns sagt, ob Unternehmen auf dem Weg in eine Netto-Null-Zukunft sind oder nicht.
Wie unterscheidet sich Ihr Lösungsansatz von der Herangehensweise Ihrer Wettbewerber?
Es ist wichtig, die kohlenstoffintensiven Industrien, die für den Klimawandel am relevantesten sind, nicht einfach zu ignorieren. Sie sind oft tragende Säulen unserer Wirtschaft und benötigen besonders dringend eine Dekarbonisierung. Diese Unternehmen befinden sich in «schwer zu dekarbonisierenden», aber klimarelevanten Branchen wie Landwirtschaft, Zement, Stahl, Chemie, Energie, Werkstoffe, Bau und Transport.
Wir nennen Unternehmen in diesen kohlenstoffintensiven Industrien, die die Dringlichkeit des Übergangs verstanden haben und auf eine Netto-Null-Orientierung dekarbonisieren, Eiswürfel: weil sie den Effekt haben, die Wirtschaft - oder die angepasste Temperatur eines Portfolios - überproportional zu kühlen. Darüber hinaus versuchen wir, kohlenstoffintensive Unternehmen zu identifizieren, die keine Fortschritte in Richtung Netto-Null-Ausrichtung machen. Wir bezeichnen diese als «brennende Holzscheiter»: Sie erzeugen enorme Emissionen und schaffen den Übergang nicht. Diese Unternehmen haben sich noch nicht zur Netto-Null-Umstellung verpflichtet und laufen Gefahr, «gestrandete Vermögenswerte» zu werden oder in einer Netto-Null-regulierten Welt nicht überleben zu können.
Was bedeutet dies für Ihre Aktienstrategie?
Unsere Strategie zielt darauf ab, solche Eiswürfel und brennende Holzscheiter in allen Sektoren der Wirtschaft zu identifizieren und dann das Kapital entsprechend umzuschichten - weg von solchen brennenden Holzscheitern und hin zu Eiswürfeln, die sich auf dem richtigen Übergangspfad befinden. Auf diese Weise zielt die Strategie darauf ab, die führenden und am besten positionierten Unternehmen innerhalb jeder Branche zu identifizieren, anstatt eine Auswahl zwischen Branchen zu treffen, es sei denn, es sind keine glaubwürdigen Übergangskandidaten zu finden. Im Ergebnis erreicht unsere Strategie eine sofortige Kohlenstoffreduzierung von 30 Prozent, ist aber auch auf weitere Kohlenstoffreduzierungen ausgerichtet, mit dem Ziel, bis 2050 Netto-Null-Kohlenstoffemissionen zu erreichen.
Was sollten Investoren vor diesem Hintergrund besonders beachten?
Kein Sektor wird davon unberührt bleiben, und das Ziel des Pariser Abkommens, die globale Erwärmung bis 2050 auf 1.5 Grad Celsius zu begrenzen, wird jedes Unternehmen betreffen. Investoren müssen sich der Risiken - und der Chancen - bewusst sein, die mit diesem Übergang verbunden sind. Unternehmen und Investitionen, die sich auf einem nachhaltigen Weg befinden, um den Status der Klimaneutralität zu erreichen und die Risiken des Übergangs erfolgreich zu managen, werden wahrscheinlich von höheren Bewertungen als ihre Wettbewerber profitieren und potenziell einen günstigeren und umfangreicheren Zugang zu Kapital erhalten.
Link zum Disclaimer
Christopher Kaminker ist Head of Sustainable Investment Research & Strategy bei Lombard Odier. Zuvor war er bei der Skandinaviska Enskilda Banken (SEB) als Head of Sustainable Finance Research und Senior Advisor tätig. Vor der SEB war er Senior Economist und Berater für nachhaltige Finanzen bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Kaminker vertrat die OECD als Delegierter bei der G20 und dem Financial Stability Board. Er hat einen Doktortitel von der Universität Oxford und einen Abschluss von der School of International and Public Affairs der Columbia University.