Produktinnovationen und alte Themen - die Fondsindustrie am Scheideweg?

Head of Lipper EMEA Research
Refinitiv, an LSEG Business, Frankfurt
lipperalpha.refinitiv.com
22.06.2023
Herr Glow, Sie haben einen erstklassigen Einblick, was in der europäischen Fondsindustrie läuft. Die Märkte sind volatil, haben keine klare Richtung. Da stellt sich natürlich unweigerlich die Frage: wie schlagen sich in diesem Umfeld aktiv verwaltete Fonds?
In dem schwierigen Marktumfeld der letzten 18 Monate ist es auch der Mehrzahl der aktiven Fondsmanager schwergefallen, die Entwicklung der Märkte zu schlagen. Dass die Investoren mit den Ergebnissen der aktiv gemanagten Fonds nicht zufrieden waren, spiegelt sich meiner Ansicht nach zumindest zum Teil in den Mittelbewegungen in der europäischen Fondsindustrie wider. Im laufenden Jahr können sich passive Anlageprodukte wie Indexfonds und ETFs insgesamt betrachtet über Zuflüsse freuen, während aktiv gemanagte Mittelabflüsse verzeichnen. Allerdings muss hier gesagt werden, dass die Ergebnisse für die verschiedenen Anlageklassen im Bezug auf die Mittelzu- und -abflüsse durchaus unterschiedlich ausgefallen sind.
Also geht der Siegeszug der ETFs in vollem Tempo weiter…
Siegeszug ist hier, glaube ich, nicht das richtige Wort. Die Anleger in Europa und in den USA präferieren derzeit ETFs. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Märkten. Während die Anleger in Europa schwerpunktmässig in passive Produkte investieren, wenn sie ETFs kaufen, sind es in den USA vermehrt aktive Produkte, die in der «Vertriebshülle» ETF gekauft werden.
Das bedeutet, dass die Aktiv- versus Passiv-Diskussion in den USA bereits vorüber ist und die Anbieter den ETF als neuen Vertriebsweg wählen, um so die Anleger zu erreichen. Dies wird aus meiner Sicht auch in Europa kommen. Die Kundenpräferenzen haben sich insbesondere während der Corona-Pandemie stark verändert. Viele Anleger haben aufgrund der Verfügbarkeit von den sogenannten «Trading-Apps» die Themen Kapitalanlage und Altersvorsorge für sich entdeckt, was sich zum Beispiel in Deutschland in der stark gestiegenen Anzahl der ETF-Sparpläne bei den entsprechenden Anbietern widerspiegelt. Um überhaupt eine Chance zu haben, von diesem Boom zu profitieren, müssen die Anbieter von aktiv gemanagten Fonds also ETFs auflegen, denn die meisten Anbieter von diesen Apps können den traditionellen Fondshandel gar nicht abbilden und bieten ihren Kunden dementsprechend nur ETFs an. Hier ist es sicherlich von Vorteil, dass in diesem Jahr das Patent von Vanguard auf «ETF-Anteilsklassen» ausgelaufen ist, was meiner Ansicht nach dazu geführt hat, dass derzeit viele Anbieter von aktiv gemanagten Fonds darüber nachdenken, wie sie zu ihren bestehenden Produkten eine ETF-Anteilsklasse hinzufügen können. Hier gibt es noch einige regulatorische Hürden zu überwinden, aber die Statements der Marktregulatoren in Luxemburg und Irland zeigen, dass dieses Thema von grossem Interesse zu sein scheint, da es hier anscheinend hinsichtlich des regulatorischen Umfeldes einen Wettbewerb zwischen den Fondsdomizilen gibt.
Somit könnten Sie mit Ihrer Aussage des Siegeszuges der ETFs doch Recht haben, allerdings nicht in Bezug auf die Aktiv- versus Passiv-Diskussion, sondern in Hinsicht auf den Fondsvertrieb der Zukunft.
Der Hype um ESG scheint sich abgeflacht zu haben. Oder haben Sie ein paar Neuigkeiten parat?
Hat es hier jemals einen Hype gegeben? Aus meiner Sicht haben die Medien das Thema sehr stark in den Vordergrund geschoben und sind nun zu anderen Themen übergegangen. Dies ist ja leider die gängige Praxis, schliesslich müssen die Medien ja ständig neue Inhalte produzieren, da die Leser/Konsumenten nicht ständig das gleiche Thema in der Berichterstattung sehen wollen. Auch die vielen Initiativen der Fondsanbieter waren nicht wirklich ein Hype. Mit Einführung der SFDR-Regulierung mussten die Anbieter in Europa reagieren und ihre Produkte entsprechend der neuen Regulierung und der Nachfrage der Investoren ausrichten, ohne dabei Klarheit über die unterliegenden Kriterien für die einzelnen Nachhaltigkeitskategorien zu haben. In der Folge gab es dann einige Irritationen, mit der entsprechenden Berichterstattung, die dann aber weitestgehend korrigiert wurden.
Diese Hektik in allen Teilen der Wertschöpfungskette hat sich jetzt gelegt und die Anbieter sowie die Anlageberater versuchen nun, ihre Produkte und Beratungsprozesse mit Leben zu füllen. Dies ist immer noch nicht einfach, da noch immer wichtige Eckpunkte und Daten fehlen, aber wir sind hier als Industrie schon deutlich weiter als wir es vor einem Jahr waren.
Aus meiner Sicht ist das Thema ESG im sogenannten Mainstream angekommen. Das heisst, es geht nicht mehr darum, ob ein Fonds ESG-Kriterien berücksichtigt, sondern um die Inhalte, also welche Kriterien werden berücksichtigt und wie werden diese konkret eingesetzt. Das heisst aber nicht, dass die Industrie jetzt schon am Ziel angekommen ist. Zum einen müssen immer noch einige «Jugendsünden» bereinigt werden und ich hoffe, dass die Fondsindustrie hier genug Selbstreinigungskräfte besitzt, damit dies auch zeitnah geschieht. Zudem bleibt die Regulierung nicht stehen und die Industrie steht gerade im Bereich der nachhaltigen Geldanlage immer wieder vor neuen regulatorischen Herausforderungen. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Ansprüche der Investoren. Je mehr die Investoren über nachhaltige Geldanlage lernen, desto höher werden ihre Ansprüche hinsichtlich des Einsatzes und der Umsetzung von ESG-Kriterien im Portfoliomanagement. Hier gibt es also noch viel zu tun und das Thema nachhaltige Geldanlage wird sich aus meiner Sicht auch zukünftig dynamisch weiterentwickeln.
Kein Tag vergeht, ohne dass nicht eine ganze Menge an neuen Fonds auf den Markt kommt. Macht sich die Industrie mit dieser Produktinflation einen Gefallen?
Sie sprechen von einer Produktinflation, ich würde hier lieber von Produktinnovationen sprechen. In der europäischen Fondsindustrie sind mehrere Tausend Asset Manager aktiv. Diese nutzen entweder eine eigene Kapitalverwaltungsgesellschaft oder legen ihre Fonds über eine sogenannte «White-Label-Plattform» auf. Bei dieser Menge an Anbietern wundert es einen nicht, dass im Schnitt mehrere neue Produkte pro Tag auf den Markt kommen. Auf der anderen Seite der Bilanz werden aber auch mehrere Produkte pro Tag geschlossen, was die Anzahl der insgesamt verfügbaren Produkte relativ stabil hält. Es gab zwar netto in den letzten Jahren einen Anstieg der verfügbaren Produkte, dafür ist die Zahl in den Jahren zuvor aber auch zurückgegangen. Somit sehe ich die steigende Anzahl der Produkte derzeit nicht kritisch.
Das führt natürlich zu der Frage, ob alle neuen Produkte sinnvoll sind. Hier kommt das Thema Produktinnovationen ins Spiel. Eines ist klar, nicht alle Produkte, die neuaufgelegt werden, werden auch erfolgreich sein. Aber ohne die Auflage von neuen, innovativen Produkten, die auf neuen Konzepten oder Markttrends beruhen oder die regulatorischen Möglichkeiten voll ausreizen, würde sich die Fondsindustrie nicht weiterentwickeln. Stellen sie sich mal vor, kein Anbieter hätte ETFs aufgelegt. Warum auch? Indexfonds waren verfügbar und wer Indizes an der Börse handeln wollte, konnte dies über Futures oder andere Derivate machen. Es gab also keinen wirklichen Grund dafür, ETFs aufzulegen. Durch die Auflage des ersten ETF wurde ein neuer Markt geschaffen, der, so wie es derzeit gemessen an dem Wachstum der ETF-Sparpläne in Deutschland und anderen europäischen Ländern aussieht, dazu in der Lage ist, auch Kleinaleger für die Nutzung von Wertpapierfonds zu begeistern. Das ist doch ein toller Erfolg! Mittel- bis langfristig wird die zunehmende Beliebtheit von ETF-Sparplänen dazu führen, dass Retailinvestoren von der positiven Entwicklung der Börsen profitieren und so wird eventuell auch gleichzeitig die Altersvorsorge zukünftiger Generationen revolutioniert.
Bleibt das Thema der Trendprodukte beziehungsweise Themenfonds. Hier bin ich schon skeptischer, ob sich die Fondsindustrie mit der Auflage solcher Produkte nicht eher einen Bärendienst erweist. Denn viele dieser Produkte basieren auf Themen, die bei der Fondsauflage ein hohes Medien- und dadurch auch Anlegerinteresse hatten, wo jedoch niemand weiss, wie lange dieser Trend anhalten wird und ob sich die entsprechenden Unternehmen in der Zukunft tatsächlich besser entwickeln werden als die Aktienmärkte im Allgemeinen. Bei dieser Art von Produkten hat es in der Vergangenheit für die Anleger viele Enttäuschungen gegeben, was in der Folge auch zu einem Vertrauensverlust der Investoren in die jeweiligen Anbieter geführt hat. Hier müssen die Anbieter meiner Ansicht nach genau hinschauen, ob sich ein Trend langfristig für beide Seiten lohnt, um so nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.
Können Sie ein aktuelles Beispiel nennen?
Derzeit sind aus meiner Sicht Themenfonds, die sich mit dem Metaverse befassen, ein Sorgenkind, denn bis heute gibt es nur wenige praktische Anwendungen für das Metaverse und niemand weiss, ob die Mehrheit der Unternehmen, die in diesem Bereich tätig sind, jemals Geld verdienen werden. Im Gegenteil: Firmen wie Meta, der Mutterkonzern von Facebook, die diesen Trend mitbegründet haben, kündigten an, dass sie ihre Aufwendungen in diesem Bereich zurückfahren. Was in der Folge bedeutet, dass die Unternehmen, die sich voll auf das Metaverse konzentrieren, weniger Unterstützung bekommen, da das Thema nach solchen Ankündigungen aus den Medien und aus den Strategiediskussionen der grossen Unternehmen verschwindet.
Etwas anders verhält es sich zum Beispiel bei dem Trend Wasserstoff, hier wurden die Fonds zwar zum falschen Zeitpunkt aufgelegt, also in dem Moment, wo der Trend seinen Höhepunkt hatte, aber die Investitionen von Unternehmen und Regierungen in diesem Bereich sind real. Hier ist es also nur eine Frage der Zeit, bis sich die Infrastrukturinvestitionen und Subventionen für die Forschung in den Unternehmensgewinnen widerspiegeln werden, denn schon heute ist klar, dass Wasserrstoff ein Teil der Energiewende sein wird. Ich könnte mir zwar vorstellen, dass es auch in diesem Bereich, gerade bei der Entwicklung neuer Technologien, Gewinner geben wird, die wir heute noch nicht kennen, aber ich glaube auch, dass die Unternehmen, die bereits heute im Bereich Wasserstoff tätig sind, von diesem Trend profitieren werden, da zum Beispiel die Lagerung und der Transport von Wasserstoff sehr komplex und aufwendig sind und man hier auch zukünftig wahrscheinlich auf das Know-how der in diesem Bereich etablierten Firmen setzen wird. Dennoch bleibt auch hier die Frage offen, ob und wann sich dieser Trend für die Anleger auszahlen wird, denn, um aus Anlegersicht erfolgreich zu sein, müssen sich die entsprechenden Unternehmen zumindest auch mittel- bis langfristig besser entwickeln als der Gesamtmarkt.
Gerade im Bereich der Themenfonds müssen die Investoren also sehr genau hinschauen, um zu beurteilen, ob ein Thema für sie erfolgversprechend erscheint oder nicht. Zudem sind viele Themen aufgrund der Grösse und oder Verfügbarkeit der führenden Unternehmen an der Börse nur zum Teil direkt investierbar. Auch aus dieser Perspektive lohnt es sich für Investoren, genauer hinzuschauen, wenn sie explizit von einem Thema oder Trend profitieren wollen.
Was ist Ihr grösster beruflicher Wunsch für die zweite Jahreshälfte?
Nach den ganzen Krisen der letzten Jahre würde ich mir wünschen, dass die zweite Jahreshälfte und auch das Jahr 2024 an den Wertpapiermärkten normal verlaufen wird. Aufgrund der derzeitigen Marktkonstellation dürfte dies aber ein Wunsch bleiben, denn ich erwarte zumindest für die zweite Jahreshälfte eine holperige Entwicklung an den Märkten, da die derzeitigen positiven Entwicklungen aus meiner Sicht auf einer zu positiven Grundstimmung bei den Investoren beruhen. Somit bleibt es leider - oder zum Glück - auch weiterhin spannend an den Wertpapiermärkten.
Disclaimer: Die im Interview gemachten Aussagen dienen nur der Information und stellen keine Anlageberatung dar. Für den Inhalt ist die interviewte Person verantwortlich. Die Aussagen stellen die persönliche Meinung der interviewten Person dar, nicht die von Refinitiv oder der London Stock Exchange Group (LSEG).
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Detlef Glow, MBA (UoW), begann im Jahr 2005 als Leiter der Fondsanalyse für Deutschland und Österreich bei Refinitiv Lipper. Anfang 2007 übernahm er die Leitung für die Regionen Zentral-, Nord- und Osteuropa. Seit Oktober 2010 ist Glow Leiter der Fondsanalyse von Lipper in Europa, dem Nahen Osten und Afrika (EMEA). Zuvor war er als Direktor Portfoliomanagement bei der Feri Wealth Management GmbH in Bad Homburg als Portfoliomanager für vermögende Privatkunden tätig. Seine Karriere begann Detlef Glow neun Jahre zuvor bei der tecis Holding AG in Hamburg, wo er zuletzt als Leiter der Fondsanalyse sowohl für das quantitative als auch das qualitative Fondsresearch der tecis Asset Management AG verantwortlich war.