Volle Fahrt voraus - die europäische ETF-Industrie ist weiterhin auf Wachstumskurs!

Head of Lipper EMEA Research
Refinitiv, an LSEG Business, Frankfurt
lipperalpha.refinitiv.com
13.04.2023
Herr Glow, am Dienstag, 11.04.2023, hat die europäische ETF-Industrie ihren 23. Geburtstag gefeiert. Was geht Ihnen da spontan durch den Kopf?
Wenn man daran zurückdenkt, wie die europäische ETF-Industrie begonnen hat, konnte man damals sicherlich nicht damit rechnen, dass ETFs eine solche Erfolgsgeschichte schreiben werden. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie uns die ersten ETFs vorgestellt wurden und wie wir diese dann im Portfoliomanagement genutzt haben.
Aus meiner Sicht hat sich die ETF-Industrie sich ihren eigenen Markt geschaffen und die Asset-Managementindustrie verändert, indem sie die Kapitalanlage effizienter und für alle kostengünstiger und transparenter gemacht hat. ETFs ermöglichen es, Privatanlegern ihr Geld zu institutionellen Konditionen anzulegen, was zu einer Demokratisierung der Kapitalanlage geführt hat.
Von den Emissionshäusern hört und liest man dazu nichts, aber Sie haben pünktlich zum Fest das «ETF-Jahrbuch 2022» rausgebracht. Können Sie uns etwas zum Inhalt sagen?
Da haben Sie recht. Ich finde es wichtig, dass man sich neben dem aktuellen Stand der Dinge auch die Geschichte der ETFs anschaut. Deshalb gibt es von uns zusätzlich zu dem ETF-Jahrbuch auch eine Historie der europäischen ETF-Industrie. Hierbei finde ich immer wieder neue Dinge, die ich der Historie dann hinzufüge. Somit wächst unsere Rückschau jedes Jahr in Länge und Breite und wird hoffentlich zukünftig ein wichtiges Zeitdokument werden.
Das Jahrbuch verfolgt eine andere Zielsetzung. In diesem Marktreport schauen wir uns die aktuellen Entwicklungen an und setzen diese zum Teil in den Kontext der historischen Entwicklungen.
So kann man zum Beispiel das weit überdurchschnittliche Wachstum der europäischen ETF-Industrie über die Jahre verfolgen oder nur die Entwicklungen am aktuellen Rand betrachten. Zudem gehen die Analysen in fast allen Bereichen deutlich tiefer als in unseren monatlichen Marktberichten, wodurch das ETF-Jahrbuch dem Leser die Möglichkeit bietet, sich intensiv mit einzelnen Bereichen der ETF-Industrie zu beschäftigen. In der aktuellen Ausgabe gehen wir zum Beispiel der Fragestellung nach, ob ETFs mit einem ESG-Bezug eine zu hohe Managementgebühr verlangen - wie einige Marktbeobachter behaupten, oder ob die Gebühren dieser ETFs gerechtfertigt sind.
Das Ganze wird dann noch durch einen Blick auf Segmente ergänzt, die sonst nicht so im Fokus stehen. Abschliessend finden die Leser in dem Jahrbuch dann noch meine Prognose zu der zukünftigen Entwicklung der europäischen ETF-Industrie. Somit liefert unser ETF-Jahrbuch einen Rundumblick auf das europäische ETF-Ecosystem.
Wie sieht Ihre Prognose für die europäische ETF-Industrie aus? Wird das Wachstum fortan gemächlicher sein?
Die kurze Antwort auf Ihre Frage lautet: Nein. Ich bin für die Zukunft der europäischen ETF-Industrie sehr positiv gestimmt und gehe davon aus, dass sich die in ETFs verwalteten Vermögen bis zum Jahr 2030 auf mehr als 2.5 Billionen Euro verdoppeln werden. Das heisst, die ETF-Industrie wird auch in den kommenden Jahren im Vergleich zur gesamten Fondsindustrie deutlich überdurchschnittlich wachsen. Die Haupttreiber für dieses Wachstum werden Produktinnovationen, insbesondere im Bereich der Renten-ETFs, und eine Ausweitung der Nutzung von ETFs durch alle Arten von Investoren sein. Bei dem letzten Punkt spielen aus meiner Sicht Privatinvestoren eine wichtige Rolle. Die Entwicklungen im deutschen Markt zeigen, dass die von den Produktanbietern in Vergangenheit oft vernachlässigten Privatinvestoren ein erhebliches Potenzial besitzen, wenn deren Nachfrage über leicht zu bedienende Apps von Plattformen wie Scalable Capital oder Trade Republic beziehungsweise den traditionellen Online-Brokern bedient wird.
Bei dieser Prognose habe ich die mögliche Zulassung von (nicht transparenten) aktiven ETFs ausser Acht gelassen. Solten diese Produkte genehmigt werden, gehe ich von einem ETF-Boom aus, der das Wachstum nochmal deutlich beschleunigen würde.
Viele dachten, kleine Anbieter würden von den grossen Häusern aus dem Markt gedrängt. Aber fast alle sind noch im Rennen. Überrascht Sie das?
Nicht wirklich. Man könnte vermuten, dass die kleinen Anbieter von dem in der ETF-Industrie vorherschenden Preisdruck aus dem Markt gedrückt werden, da sie meistens kleinere ETFs verwalten und somit aufgrund der geringen Margen nicht profitabel sind. Diese Annahme wäre richtig, wenn sich die kleinen Anbieter in den gleichen Märkten wie ihre grossen Konkurrenten tummeln würden. Allerdings legen die meisten kleinen Anbieter spezielle ETF-Strategien auf, die sich mit einzelnen Themen oder Nischenmärkten beschäftigen. Diese Strategie hat zwei Vorteile, zum einen gibt es in diesen Bereichen weniger Mitbewerber, was es den Anbietern zum anderen ermöglicht, bei ihren Produkten höhere Gebühren zu etablieren, da die einzelnen ETFs in diesen Segmenten oftmals sehr unterschiedlich sind und es daher, im Vergleich zu Standardmärkten wie dem S&P 500, nur einen geringen Preisdruck gibt.
Zudem ist es erfreulich, dass einzelne kleine Anbieter als hoch innovativ gelten und so die Produktentwicklung in der europäischen ETF-Industrie antreiben.
Die Zeit der Preissenkungen scheint vorüber zu sein. Unter Null kann man ja nicht gehen. Wo sehen Sie für die Industrie noch mögliche Innovationen?
Es gibt sicherlich noch einige Segmente, in denen die Anbieter die Preise noch senken können und sehr wahrscheinlich im Laufe der Zeit auch werden. Aber sind wir ehrlich, Preissenkungen sind keine Innovationen. Ich glaube, dass wir insbesondere im Bereich der festverzinslichen Wertpapiere viele neue Produkte sehen werden, die es den Anlegern ermöglichen werden, in sehr spezifische Bereiche des Rentenmarktes zu investieren. Aber auch das Thema Nachhaltigkeit wird uns noch einige Produktinnovationen bescheren. Sollten aktive ETFs in Europa zugelassen werden, wird es in der Folge zu einer wahren Flut an neuen Produkten mit unterschiedlichen Strategien kommen. Denn die Anbieter von aktiv gemanagten Fonds werden die Chancen des Vertriebsweges «ETFs» sicherlich nutzen und ihre Produkte auch als ETFs anbieten. Jeder dieser ETFs hätte dann eine eigene Strategie und wäre somit eine Produktinnovation.
Link zum Disclaimer
Detlef Glow, MBA (UoW), begann im Jahr 2005 als Leiter der Fondsanalyse für Deutschland und Österreich bei Refinitiv Lipper. Anfang 2007 übernahm er die Leitung für die Regionen Zentral-, Nord- und Osteuropa. Seit Oktober 2010 ist Glow Leiter der Fondsanalyse von Lipper in Europa, dem Nahen Osten und Afrika (EMEA). Zuvor war er als Direktor Portfoliomanagement bei der Feri Wealth Management GmbH in Bad Homburg als Portfoliomanager für vermögende Privatkunden tätig. Seine Karriere begann Detlef Glow neun Jahre zuvor bei der tecis Holding AG in Hamburg, wo er zuletzt als Leiter der Fondsanalyse sowohl für das quantitative als auch das qualitative Fondsresearch der tecis Asset Management AG verantwortlich war.