«Wer auf Volatilität setzt, kann effiziente Märkte schlagen»

CEO und CIO
INTECH, eine Tochtergesellschaft von Janus Capital, West Palm Beach
intechjanus.com
02.09.2015
Herr Dr. Banner, die Investoren erleben derzeit unruhige Zeiten an den Aktienmärkten. Sie legen vor allem institutionellen Anlegern ans Herz, die hohen Kursschwankungen aktiv zu nutzen statt sie zu beklagen. Wie kommen Sie zu Ihrer Empfehlung?
Der übliche Weg, eine Überrendite am Aktienmarkt zu erzielen, ist, sich die Gewinneraktien herauszupicken und die Verliereraktien erst gar nicht ins Portfolio zu nehmen. Aber in der Praxis ist dies nicht so einfach umzusetzen. Allerdings bietet das Ausnutzen der Aktienkursvolatilität die Möglichkeit, den Markt oder Vergleichsindex durch Rebalancing zu schlagen. Diese Strategie ist schon deswegen zu bevorzugen, weil es viel einfacher ist, Volatilität auf Basis der Historie einzuschätzen als Aktienrenditen - vor allem in effizienten Märkten. Oder anders gesagt: Die Gruppe der möglichen Ergebnisse eines zukünftigen Ereignisses ist fast immer einfacher vorauszusagen als das tatsächliche Ereignis selbst. Das ist wie bei einem Münzwurf: Sie können zwar nicht das exakte Ereignis vorhersagen, wissen aber doch, dass es entweder Kopf oder Zahl ist. Mit einer sorgfältig erstellten Wurfstatistik haben Sie die Möglichkeit, für ein zukünftig vorherzusagendes Ereignis einen Erwartungskorridor zu definieren und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit eines extrem ungewöhnlichen Ausgangs zu beziffern - beispielsweise, dass die Münze auf dem Rand stehen bleibt.
Aber die Realität an den Finanzmärkten ist doch viel komplexer als das eindimensionale Ereignis eines Münzwurfs. Zudem bekommen die Investoren ja nur Wahrscheinlichkeiten an die Hand. Wie sollen sie die für sich beziehungsweise ihr Portfolio nutzen?
Der Einwand ist grundsätzlich richtig, springt aber zu kurz. Die Statistik gilt auch bei der Anlage in Aktien, für die die Risikomasse im Vergleich zu den Preisbewegungen relativ stabil sind. Es ist kaum möglich, die Rendite einer Aktie auf Sicht von ein paar Wochen oder Monaten, geschweige denn einen Tag genau vorauszusagen. Aber typischerweise wird sich der Kurs innerhalb eines Korridors bewegen, der in etwa deckungsgleich mit der Volatilität der vergangenen Monate ist. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Nehmen wir an, wir versuchen, für einen Monat entfernt liegenden Tag den Kurskorridor der IBM-Aktie vorherzusagen. Ein einfacher Weg die zukünftige Volatilität vorherzusagen ist, die Standardabweichung der täglichen Aktienrendite in den vergangenen zwanzig Handelstagen zu bestimmen. Wir können dann sagen, dass der Korridor, in dem sich der Aktienkurs zukünftig bewegt, die vierfache Standardabweichung ist, normiert auf null. Mit diesem ganz einfachen Rezept finden wir dann heraus, dass sich der Kurs nur an 96 Tagen innerhalb des beispielhaften Betrachtungszeitraums von 2009 bis 2013 ausserhalb dieses statistisch ermittelten Korridors bewegt hat. Das sind in Relation gerade acht Prozent der gesamten Handelstage und ein akzeptables Ergebnis. Vor allem dann, wenn man berücksichtigt, wie schwer es ist, richtig vorherzusagen, ob sich IBM an einem bestimmten Tag nach oben oder unten bewegt.
Was macht es so schwierig, zukünftige Aktienrenditen besser einschätzen zu können?
Der Grund dafür ist die Hypothese der effizienten Märkte: Jede neue, die Zukunft betreffende Information wird augenblicklich in die Kurse eingepreist. Von aussen betrachtet folgen die Aktienkurse dadurch einem zufälligen, chaotischen Muster. Diese Hypothese haben Kapitalmarktwissenschaftler aufgestellt, um das Kursverhalten von Aktien im US-Markt und anderen hochentwickelten Märkten besser beschreiben zu können.
Wie können Investoren dann überhaupt eine Überrendite gegenüber der Marktrendite erzielen?
Dafür gibt es im Grunde nur zwei erfolgversprechende Möglichkeiten: Entweder sie investieren in weniger effiziente Märkte wie etwa die Emerging Markets oder den Small-Cap-Bereich. Dort ist es möglich, Informationen zu recherchieren, die Stockpickern einen kurswerten Vorteil bieten, weil es dem Markt beziehungsweise dem Segment an Liquidität und Transparenz mangelt. Das ist eine Strategie eher für Jäger und Sammler. Eine zweite Möglichkeit ist, einen Investmentansatz zu konzipieren, der die Volatilität gezielt ausnutzt, indem durch laufende Umschichtungen innerhalb des Portfolios eher geringere, aber dafür sichere Renditen auf Tagesbasis erwirtschaftet werden. Das ist dann mehr ein industriell, standardisierter Ansatz.
Und wie funktioniert dieser Ansatz?
Um das erklären, komme ich auf das Beispiel der IBM-Aktie zurück. Unterstellt man die Tatsache, dass die Aktienkursbewegungen im Betrachtungszeitraum wirklich zufällig sind, lässt sich mit dem Einsatz anspruchsvoller statistischer Ansätze sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Kurs an einem Tag ausserhalb des erwarteten Korridors bewegt, bei fünf Prozent liegt. Das ist recht nahe an dem Wert von acht Prozent, den wir mit der einfachen Methode ermittelt haben. Der Vorteil dieser Methode ist die verlässlichere Vorhersage von Volatilität. Der Anleger ist dadurch in der Lage, sowohl die Art als auch die Häufigkeit von extremen Ereignissen besser einschätzen zu können. Beide Faktoren führen im Ergebnis zu volatileren Kursentwicklungen ausserhalb des erwarteten Korridors.
Das klingt schlüssig, aber was ist das Risiko dieses Ansatzes?
Die grösste Gefahr ist sicherlich, dass die «blinde» Nutzung von Statistiken eine falsche Wahrnehmung von Sicherheit erzeugt. Genau umgekehrt wird jedoch ein Schuh draus: Ein «gutes», also fundiertes Verständnis von Volatilität ermöglicht dem Investor, die notwendigen Ressourcen vorzuhalten, um Ausnahmefälle zu managen. Um beim Beispiel zu bleiben: Der Investor wird dem Versuch widerstehen, die Marke von acht Prozent weiter zu reduzieren, wenn die zukünftigen Erträge mehr und mehr ausserhalb des erwarteten Korridors liegen. Stattdessen wird er sich darauf fokussieren, das Portfolio bestmöglich gegen diese Ausnahmefälle abzusichern. Die systematische Analyse von Volatilität erlaubt es ihm zudem, ein diversifiziertes Portfolio zu konzipieren und dabei das Anlagerisiko aktiv zu kontrollieren. Dadurch werden zu einseitige Wetten verhindert und der Investor erliegt nicht dem Fehler der Selbstüberschätzung.
Das setzt aber voraus, dass der Markt sozusagen stabil instabil ist, oder?
Das ist richtig. Aber das Faszinierende ist, dass die Volatilität der Aktienkurse auf lange Sicht vergleichsweise stabil ist. Es ist dadurch einfacher, Trendwechsel in der Zukunft frühzeitig zu identifizieren. Veränderungen in der Risikostruktur eines Marktes treten üblicherweise plötzlich und ohne Ankündigung auf, während die zugrundeliegende Kapitalstruktur demgegenüber vergleichsweise beständig ist. Es ist unmöglich, die zukünftige Marktkapitalisierung einer bestimmten Aktie oder meinetwegen auch einer Branche genau vorherzusagen. Es gibt bestimmte Charakteristiken eines Aktienmarktes, die sich über die vergangenen Jahrzehnte nicht verändert haben. Schauen Sie sich zum Beispiel die Struktur des US-Aktienmarktes in den vergangenen 50 Jahren an. Sie werden sehen, dass - von kleineren Abweichungen abgesehen - die zehntgrösste Aktie etwa ein Prozent der Marktkapitalisierung auf sich vereint, während die Aktie auf dem Grössenrang 100 wiederum in etwa ein Fünftel davon auf die Waage bringt. Das ist ein bemerkenswertes Phänomen, wenn man sich überlegt, wie fundamental sich die reale Wirtschaft in diesem Zeitraum verändert hat: etwa durch Globalisierung, Digitalisierung, den Boom des Informationssektors und den Niedergang tradierter Produktionsbranchen, um nur einige Stichworte zu nennen. Die Konsistenz der Marktstruktur ist also ein brauchbares Werkzeug.
Das Investoren wie nutzen können?
Die Existenz dieses Phänomens lässt sich als Stressindikator für einen Markt nutzen. Vereinfacht gesagt: Abweichungen von diesem Muster können Anleger dazu veranlassen, ihre Grundannahmen auf den Prüfstand zu stellen, was im Ergebnis zu höherer Marktvolatilität führen kann. Umgekehrt: Ist der Markt durch eine Krise erschüttert worden, können sich die Investoren bei der Frage, ob und wann die schwierige Marktphase durchlaufen ist und die Volatilität aller Wahrscheinlichkeit wieder sinkt, an der Grössenstruktur des Marktes oder der Verteilung von Aktienkursrenditen orientieren. Um es grundsätzlich zu sagen: Aktienkursvolatilität bedeutet für jeden Investor eine ernstzunehmende Gefahr, wenn er nicht sorgfältig damit umgeht. Mit einer systematischen Diversifikation und einem tiefen mathematischen Verständnis ist es jedoch nicht nur möglich, Risiko zuverlässig zu kontrollieren, sondern auch als potenzielle Renditequelle zu nutzen, ohne dass sich der Anleger dabei die Finger verbrennt.
Dr. Adrian Banner ist CEO und CIO von INTECH, einem Tochterunternehmen von Janus Capital. Er begann seine Arbeit für INTECH 2002 im in Princeton ansässigen Research-Team. Seit 2009 war er Co-Chief Investment Officer, bevor er 2012 zum CEO und CIO ernannt wurde. Dr. Banner studierte Mathematik an der University of New South Wales in Australien und legte seine Promotion in Mathematik an der Princeton University ab, wo er noch immer Lehraufträge wahrnimmt. Er ist Autor einer Reihe wissenschaftlicher Studien und eines Lehrbuchs zum mathematischen Teilgebiet der Analysis, «The Calculus Lifesaver».