«Wer in Panik gerät, sollte früh in Panik geraten»

Portfolio Manager, Global Focused Growth Equity Strategy
T. Rowe Price, Baltimore
troweprice.com
19.06.2020
Herr Eiswert, wie gehen Sie mit der aktuellen Phase der Volatilität um - und wie unterscheidet sich diese Krise von anderen in Ihrer Karriere?
Ich habe in meiner Karriere drei Marktkrisen erlebt: die Technologieblase, die globale Finanzkrise und jetzt die Coronavirus-Pandemie. Hinzu kommen mehrere Minikrisen. Der grundlegende Unterschied besteht dieses Mal darin, dass es sich um eine Naturkatastrophe handelt. Die Technologieblase und die globale Finanzkrise waren Mann gegen Mann. Das heisst, sie waren von Menschen gemachte Ereignisse, im Gegensatz zu dieser aktuellen Krise, bei der es sehr stark um «Mensch gegen Natur» geht. Es handelt sich also um eine ganz andere Art von Krise, die sowohl von den Zentralbanken als auch von den Regierungen eine entsprechend andere Reaktion hervorgerufen hat.
Wie waren Sie positioniert, als Sie in die Krise gerieten? Und: Was waren Ihre unmittelbaren Schritte, nachdem Sie das Ausmass der Coronavirus-Krise erkannt hatten? Hat sich Ihre Vorgehensweise geändert, nachdem eine gewisse Verbesserung eingetreten ist?
Wir begannen das Jahr 2020 in einer, wie ich es nennen würde, Goldlöckchen-Situation. Präsident Donald Trump hatte es geschafft, die Federal Reserve dazu zu bringen, die Zinsen zu senken und die Spannungen aufgrund des Handelskrieges gegen China liessen nach. Der Risikoappetit war gestiegen, während die Investoren auf eine zyklische Erholung warteten. In unserer ersten Reaktion auf die Krise haben wir alle Positionen abgebaut, bei denen ein Bilanzrisiko bestand. Wir haben ein Motto im Team: Wer in Panik gerät, sollte früh in Panik geraten. Daher haben wir versucht, dies frühzeitig umzusetzen und jede Art von Bilanzrisiko, Kreditrisiken und alles aus dem Portfolio zu entfernen, von dem wir dachten, dass es die Bilanzen beeinträchtigen könnte. Dann legten wir unseren Aktionsrahmen für die Krise fest: Wer profitiert von dieser Krise, und welche Unternehmen möchte man wirklich besitzen? Wir haben für unsere Kunden eine dreiteilige Serie geschrieben, in der wir detailliert beleuchten, wie wir diesen Prozess in Gang gesetzt haben (Krisen-Drehbuch Teil I, II und III).
Gibt es Datenpunkte, anhand derer Sie erkennen, dass eine Verbesserung in Sicht ist?
Einer der wichtigsten Gradmesser ist der Punkt «keine weitere Verschärfung mehr». Ob es die Aussichten für ein einzelnes Land sind oder für einzelne Unternehmen. Die Erkenntnis von «keine weitere Verschärfung mehr» ist eine der wichtigsten Erfahrungen, die ich in meiner Karriere gemacht habe. Das bedeutet, dass die Märkte tendenziell einen Tiefpunkt erreichen - und zwar nicht, wenn kein Risiko besteht, sondern wenn die Unsicherheiten aufhören, sich zu beschleunigen. Also dann, wenn man zu sehen beginnt, wie sich die Unwägbarkeiten verringern könnten. Wir haben frühzeitig die drei Schlüsselindikatoren für den Punkt «keine weitere Verschärfung mehr» in diesem Markt identifiziert:
(1) Antworten der Regierungen und Zentralbanken
Was würden Regierungen und Zentralbanken als Reaktion auf diese Krise tun? Man kann darüber philosophieren. Aber ich glaube, dass die US-Notenbank und die Regierung der Vereinigten Staaten gute Arbeit geleistet haben, als sie eingriffen, um die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems aufrechtzuerhalten.
(2) Behandlung des Virus und Tests
Der zweite Indikator betraf die Behandlungen und Tests. Obwohl wir noch einen langen Weg vor uns haben, gehen wir davon aus, dass wir das Schlimmste in der Art und Weise überstanden haben, wie wir das Virus testen und behandeln. Wichtig ist, dass die Klinikeinweisungen ihren Höhepunkt überschritten haben. Die Abriegelung war in Wirklichkeit ein Beitrag zur Rettung unserer Gesundheitssysteme - und es scheint, dass uns dies gelungen ist.
(3) Höchststand der Infektionsraten
Der dritte Indikator war der Zeitpunkt, an dem die Fälle in den wichtigsten Volkswirtschaften ihren Höhepunkt erreichen würden. In China haben wir dies bereits gesehen und wir nutzen das, um zu prognostizieren, wie sich die Lage in den USA und in Europa entwickeln könnte. Es gibt deutliche Unterschiede, doch diese Auffassung ist der dritte wichtige Anhaltspunkt.
Diese drei Elemente sind von entscheidender Bedeutung für den Prozess «keine weitere Verschärfung mehr.» Ich bin der Ansicht, dass wir das jetzt hinter uns haben. Sobald die Märkte spüren, dass es «nicht mehr schlimmer wird», dürften sie anfangen, sich zu erholen.
Glauben Sie, dass sich die Märkte angesichts der Unsicherheit kurzfristig zu stark erholt haben?
Auf 12 bis 24 Monate gesehen bieten Aktien im Vergleich zu den meisten Alternativen gute Renditeaussichten. Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich hier um eine Naturkatastrophe und nicht um einen Kreditzyklus handelt. Das ist wichtig.
Betrachtet man beispielsweise die Fahrzeugindustrie oder die Halbleiterindustrie, so ist ein Abschwung in der Regel von einem grossen negativen Lagerbestands- und Distributionszyklus begleitet. Da die Halbleiterindustrie diesen Zyklus bereits in den Jahren 2018 und 2019 hatte, ist dies nun nicht der Fall.
Ein weiterer Punkt ist die Bewertung. Unternehmen wie Netflix, Amazon und Zoom waren unserer Meinung nach nicht überbewertet, als sie in diese Krise gerieten. Das Coronavirus hat ihre Positionierung gestärkt und ihre Anpassung beschleunigt. Das ist ein Teil dessen, was diese Art von Zyklus ganz anders macht.
Ein letzter Punkt ist eher akademischer Natur: Wenn die Fed potenziell jede Anlageklasse kaufen wird und wenn die Zentralbanken eingreifen und die Wirtschaft während der Coronavirus-Pandemie unterstützen werden, dann sollten die Gewinnmultiplikatoren höher ausfallen - zumal mehr Kredite zur Verfügung stehen und die Zinssätze niedrig sind. Die Tatsache, dass die Vermögenspreise nach solchen Massnahmen nach oben gehen, ist nicht überraschend. Man könnte sogar argumentieren, dass es jetzt noch mehr Liquidität gibt als vor dem Virus.
Wir bewegen uns in Phasen, in denen bestimmte Entscheidungen wichtig waren. Unsere erste Entscheidung war der Verkauf unerwünschter Risiken, insbesondere Bilanzrisiken. Die zweite bestand darin, die Unternehmen zu besitzen, die potenziell von der Lockdown-Situation profitieren würden. Die nächste Stufe, in die wir unserer Meinung nach jetzt eintreten, ist eher das, was wir als «angenehme Überraschung» bezeichnen, in der die Unternehmen bessere Ergebnisse melden als erwartet.
Während es Teile der Wirtschaft gibt, die katastrophal sind - und die ein Risiko für die Erholung des Aktienmarktes mit sich bringen - gibt es gibt es einige, die sich wahrscheinlich verbessern werden. Diese Zweiteilung stellt eine Herausforderung für Stockpicker dar.
Können Sie uns Ihre Einschätzung zu den Spreads in den Bereichen Value und Growth geben? Sehen Sie Chancen in Value-Titeln?
Es ist oft schwierig zu klären, welche Aktien in die Kategorie «Value» passen. Ich glaube, es gibt hier einige ungünstige Assoziationen. Aber seien es Rohstoffe oder Finanzwerte, es gibt einige gute Ideen.
Einige US-Banken haben zum Beispiel gute, sehr individuelle Vorgeschichten. Institute, die Eigenschaften aufweisen, die sie eher zu einer wachstumsorientierten Anlageform machen können, obwohl ihre kurzfristigen Erträge möglicherweise zinsempfindlich sind. Wir versuchen, im Portfolio Aktie für Aktie vorsichtig konträr zu sein, wo wir Potenzial für Ertragsverbesserungen sehen. Aber wir werden uns nicht einfach auf die Kategorie Value als «Faktor» stürzen. Wenn man eine günstige Aktie auswählen kann, von der man glaubt, dass sie Growth-Charakteristika hat, sollte man auch gewillt sein, sie zu kaufen.
Die US-amerikanische Wirtschaft ist die grösste Volkswirtschaft der Welt. Wie wirkt sich der Lockdown auf die USA aus?
Die US-Wirtschaft ist stark und die Arbeitslosigkeit war aussergewöhnlich niedrig. Wir sind aus einer Position der Stärke in diese Krise gegangen. Aber das Land ist im Moment sehr gespalten zwischen denen, die für Trump sind und jenen, die es nicht sind. Auch die einzelnen Staaten sind in dieser Hinsicht gespalten: Im Nordosten gibt es mehr demokratische Staaten, wo der Lockdown härter ist, während in den republikanischen Staaten im Süden die Bereitschaft viel grösser ist, schnell wieder an die Arbeit zu gehen. Ist eine baldige Rückkehr zur Normalität positiv oder negativ? Dies wird sich zeigen, unabhängig davon, ob es sich um Georgia oder Florida handelt. Beides sind Staaten, die aggressivere Massnahmen zur Aufhebung der Abriegelung ergreifen werden.
Bis zu einem gewissen Grad erwarte ich, dass die USA möglicherweise mehr Risiken eingehen als China, das einen strengen Lockdown eingeführt hat und erst jetzt die Beschränkungen lockert. Es gibt zwar einige Menschen, die dort wieder arbeiten. Doch es gibt immer noch Regierungsvorschriften, an die sich die Bevölkerung genau hält. In Europa gibt es Elemente der verstärkten Zusammenarbeit. In den USA sieht man eine heterogene Gruppe von Menschen, die bereit sind, potenziell mehr Risiko einzugehen. Wir werden sehen, welche Auswirkungen das auf die Frage haben wird, ob dadurch die Reinfektionsraten in die Höhe schnellen oder nicht.
Wichtig ist: Ich sehe keinen Grund, warum wir - sobald wir aus dieser Phase herauskommen - nicht wieder zu dem stabilen wirtschaftlichen Umfeld zurückkehren können, das wir vorher hatten.
Vor dieser Krise standen die Wahlen in den USA im Mittelpunkt des Interesses. Können Sie uns Ihre Sichtweise dazu darlegen und wie das aktuelle Geschehen das Ergebnis beeinflussen könnte?
Zunächst einmal bleibt zu hoffen, dass die Wahlen überhaupt stattfinden. Denn eine zweite Infektionswelle würde den Gang zur Urne erheblich erschweren. Allerdings ist das Hauptrisiko, das die Finanzmärkte umgetrieben hat, vom Tisch, nachdem Joe Biden als Kandidat für die Demokratische Partei nominiert wurde. Schliesslich wäre ein Duell zwischen Bernie Sanders und Donald Trump mit hohen Risiken für die Börsen behaftet gewesen, die nun eliminiert sind. Das ist für uns insofern gut, als es Auswirkungen darauf hat, wie wir zum Beispiel in Gesundheitstitel investieren. Denn die private Gesundheitsversorgung gewinnt in einem Wahlkampf zwischen Biden und Trump an Bedeutung, da beide Kandidaten ein umfassendes staatliches Gesundheitssystem ablehnen.
Unklar ist, ob Trumps Umgang mit der Corona-Pandemie und seine Auseinandersetzungen mit einigen Gouverneuren im ganzen Land seiner Popularität förderlich oder abträglich ist. In den kommenden Monaten sollte es immer besser gelingen, die Corona-Pandemie zu kontrollieren, und wenn sich die US-Wirtschaft danach schnell wieder stabilisiert, könnte das Donald Trump stützen. Umgekehrt würde es den amtierenden Präsidenten belasten, wenn die Fallzahlen wieder steigen.
Wie dem auch sei, ich glaube, dass ein Grossteil der politischen Risiken im Jahr 2021 und danach durch die beiden Kandidaten, die jetzt zur Wahl antreten, der Vergangenheit angehören. Allerdings dürften beide Kandidaten gegenüber China einen harten Kurs fahren. Das müssen wir bei unseren Entscheidungen zwar berücksichtigen, aber die Risiken insgesamt sind etwas gesunken.
Link zum Disclaimer
David Eiswert ist Portfoliomanager der «Global Focused Growth Equity Strategy» bei T. Rowe Price, eine Funktion, die er seit dem 1. Oktober 2012 innehat. Er erwarb einen B.A., summa cum laude, in Wirtschafts- und Politikwissenschaften am St. Mary's College of Maryland und einen M.A. in Wirtschaftswissenschaften an der University of Maryland, College Park. David Eiswert hat sich auch die Bezeichnung «Chartered Financial Analyst» verdient.