«Wir befinden uns in der Frühphase eines neuen Aktienzyklus»

03.09.2020
Herr Berg, die fiskalischen und monetären Massnahmen der Regierungen und Zentralbanken übertreffen sowohl in den Industrie- als auch in den Schwellenländern bei weitem die Reaktionen, die während der globalen Finanzkrise erfolgten. Glauben Sie, dass genug getan wurde, um eine viel tiefere globale Rezession zu vermeiden als die, die viele erwarten?
Der Umfang und die Geschwindigkeit dieser Schritte - insbesondere von der Federal Reserve und der US-Regierung - waren wirklich atemberaubend. Die energische politische Reaktion hat geholfen, mir ein Urteil von der Coronakrise zu bilden. In den USA verabschiedete der Kongress rasch drei Fiskalpakete im Wert von 2,4 Billionen US-Dollar, was über 11.0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht. Trotz der jüngsten Verzögerungen sind weitere Anreize zu erwarten. Die Fed hat ebenfalls sehr schnell gehandelt und die Zinssätze bis auf Null gesenkt. Gleichzeitig hat sie eine unbegrenzte quantitative Lockerung eingeführt und die Kreditmärkte durch den Kauf von Exchange Traded Funds (ETFs) auf Unternehmensanleihen direkt unterstützt.
Es gab ein sehr starkes Signal von Regierungen auf der ganzen Welt, die sich dazu verpflichteten, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um kleineren Unternehmen, Arbeitnehmern und Arbeitslosen zu helfen, die durch Covid-19 verursachte Wirtschaftskrise zu überstehen. Daher geht es nicht so sehr um die Frage, ob die Regierungen genug getan haben. Sie haben bereits mehr getan, als fast alle Marktteilnehmer zu Beginn der Pandemie erwartet hatten - und sie sind bereit, bei Bedarf noch darüber hinaus zu gehen. Weltweit dürfte sich die quantitative Lockerung der Zentralbanken im Jahr 2021 gegenüber dem bisherigen Höchststand im Jahr 2010 nach der Finanzkrise mehr als verdoppeln.
Um die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken: In drei bis vier Monaten hat die Fed doppelt so viel quantitative Lockerung betrieben wie während der gesamten globalen Finanzkrise in den Jahren 2008 bis 2010. Damals handelte die Fed entschlossen als «Welt-Zentralbank», die sicherstellt, dass genügend Liquidität im System bleibt, damit die Märkte normal funktionieren können.
Wann haben Sie erkannt, dass diese Rezession wahrscheinlich nicht zu einer Finanzkrise werden würde?
Es war ein wichtiges Signal für uns, als wir sahen, dass die Unternehmen selbst in einigen der am stärksten vom Coronavirus betroffenen Sektoren noch immer in der Lage waren, langfristige Kredite zu sehr niedrigen Zinssätzen aufzunehmen.
Während der globalen Finanzkrise wurden die Stimulierungsmassnahmen von den Finanzmedien oft als Rettungsaktionen der Regierungen für die grossen globalen Banken dargestellt. Heute haben die Regierungen meiner Meinung nach besser reagiert, indem sie sagten: Wir tun alles, was wir können, um denen zu helfen, die unter dem Coronavirus leiden. Dies hat einen stärker überparteilichen Ansatz zur fiskalischen und politischen Lockerung gefördert, den aufstrebende populistische Bewegungen nur schwer ausnutzen konnten.
Wie beurteilen Sie die globalen Aktienbewertungen nach der markanten Markterholung und angesichts so vieler Risiken, die sich nach wie vor am Horizont abzeichnen?
Ein entscheidender Faktor ist zunächst das Ausgangsniveau der Aktienbewertungen vor Beginn des Ausverkaufs im Februar. Sie lagen geringfügig über dem langfristigen Durchschnitt, waren aber alles andere als extrem. Anfang 2020 wurden globale Aktien überwiegend mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis im mittleren bis oberen Zehnerbereich auf Basis der prognostizierten Gewinne gehandelt.
Dies unterscheidet sich deutlich von der Technologieblase im Jahr 2000. Damals handelten die Industrieländer zu sehr viel höheren Marktbewertungen mit einem 25- bis 27-fachen Kurs-Gewinn-Verhältnis, wobei viele Internet- und Technologieunternehmen noch höher gepreist wurden. Der Ausgangspunkt für die Bewertungen, als das Coronavirus in diesem Jahr erstmals zuschlug, war also recht vernünftig. Eine fundierte Vermutung ist, dass die Welt aufgrund der durch Covid-19 ausgelösten Rezession rund 18 Monate ihres Bruttoinlandsprodukts verlieren könnte. Es könnte auch ein bisschen weniger oder ein bisschen mehr sein. Nimmt man jedoch die Mitte der Prognosebandbreite von 18 Monaten, werden wir Mitte kommenden Jahres in etwa wieder das BIP-Niveau vor Covid erreichen.
Wo stehen wir jetzt?
Die Märkte befinden sich heute recht nahe dort, wo sie zu Beginn dieses Jahres standen. Wenn sie, wie einige Aktienstrategen derzeit annehmen, in den kommenden zwölf Monaten um moderate 5 bis 7 Prozent steigen, dann werden wir im Wesentlichen auf einem Markt- und BIP-Niveau landen, das im Grossen und Ganzen demjenigen entspricht, wo wir begonnen haben. Aus einer Top-Down-Makro-Perspektive erscheint mir das mit Blick auf die globalen Aktienbewertungen kein völlig unvernünftiges Szenario zu sein. Natürlich wird es angesichts der Veränderungen durch das Coronavirus viele neue Gewinner und Verlierer geben. Dies bietet Bottom-up-Stockpickern wie T. Rowe Price einen guten Nährboden.
Hinsichtlich der Bewertungen möchte ich abschliessend noch bemerken, dass wir uns jetzt eindeutig in einer Welt befinden, in der die Zinssätze noch länger niedriger sein werden als wir bisher dachten - wenn nicht sogar noch viel länger. Die Renditen der Staatsanleihen sind in den Industrieländern auf ein extrem niedriges Niveau gedrückt worden und fallen nun auch in den Schwellenländern drastisch. Das Dividenden-Diskontierungsmodell legt - sofern alle anderen Bedingungen gleich bleiben - nahe, dass es in einer Welt, in der der risikofreie Zinssatz erwartungsgemäss viel niedriger sein wird, es ein stichhaltiges Argument dafür gibt, dass Aktienbewertungen bedeutend höher sein können.
Glauben Sie, dass Covid-19 das Wachstumsprofil der Schwellenländer verändern könnte, in denen viele Staaten eine Schwächung der Haushaltslage erkennen lassen?
Um diese Frage zu beantworten, bietet es sich an, die Emerging Markets in verschiedene Kategorien zu unterteilen. In der ersten Kategorie befindet sich mit China eine sehr grosse Volkswirtschaft. Für alle Investoren ist es sehr wichtig, genau zu verstehen, was dort vor sich geht. Während China das ursprüngliche Zentrum des Coronavirus gewesen ist, war die Rendite der China-A-Aktien seit Jahresbeginn aus gutem Grund ebenso gut wie die Rendite an der US-Technologiebörse Nasdaq. Im Rahmen der globalen Pandemie war China in diesem Jahr die stärkste der weltweit führenden Volkswirtschaften und hat sich als erste erholt.
In der zweiten Kategorie der Emerging Markets befinden sich Exporteure von Industriegütern wie Korea und Taiwan. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Länder, die aus verschiedenen Gründen zum Schwellenländer-Universum gehören, obwohl sie eigentlich als Teil der technologischen Lieferkette der entwickelten Welt gesehen werden sollten. Die dritte Kategoriesind die Rohstoffexporteure der Emerging Markets, also Länder wie Brasilien, Russland, Südafrika und der Nahe Osten.
Die vierte Kategorie schliesslich umfasst eine kleine Anzahl von aufstrebenden Staaten mit mehreren gemeinsamen Schlüsselmerkmalen. Jedes dieser Länder ist demographisch gesegnet mit einer niedrigen Verschuldung im Verhältnis zum BIP, «normalen» Zinssätzen und bedeutend höheren strukturellen Wachstumsraten, wie Indien, Indonesien, die Philippinen, Vietnam und Peru. Für internationale Aktienanleger ist dies ein ausgesprochen interessanter Teil des Emerging-Markets-Universums.
Welche dieser Kategorien ist besonders wichtig?
In dem Masse, in dem Covid-19 länger zu einer Welt mit niedrigeren Zinsen und auch länger zu einer Welt mit geringerem Wachstum führt, wird es wichtiger denn je sein, in den schnell wachsenden Emerging-Markets-Ländern in die vierte Kategorie zu investieren. Viele erfolgreiche multinationale Unternehmen scheinen sich verstärkt auf die Schwellenländer dieser Kategorie zu konzentrieren, um dort ihre Geschäftstätigkeiten auszubauen. Und schliesslich möchte ich bemerken, dass die Coronavirus-Pandemie nichts an meiner Überzeugung geändert hat, dass Regionen wie Indien und Südostasien weiterhin verlockende langfristige Investitionsaussichten bieten.
Grundsätzlich finden wir derzeit die besten Investitionsmöglichkeiten in einem relativ kleinen Segment des Emerging-Markets-Universums und sind weniger an den reiferen Märkten wie Südkorea und Taiwan oder an Rohstoffproduzenten wie Brasilien und Südafrika interessiert.
Internationale Aktien überraschten die Anleger mit der Stärke und der Geschwindigkeit des Aufschwungs und machten dies zum kürzesten Bärenmarkt aller Zeiten. Was kommt als nächstes, wenn man bedenkt, dass die Märkte nahe an die Niveaus vor der Korrektur zurückgekehrt sind?
Ich denke, wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem es taktisch sinnvoll ist, vorsichtiger zu sein als vor zwei oder drei Monaten, da die Anleger immer noch mit einer Reihe erheblicher Risiken zu kämpfen haben. Erstens sehen wir eine zweite Welle des Coronavirus oder vielerorts eine ausgedehnte erste Welle, und die ökonomischen Kosten der Bekämpfung der Pandemie könnten grösser sein und länger andauern als ursprünglich angenommen. Die wirtschaftliche Erholung ist nach wie vor fragil, und es besteht nach wie vor beträchtliche Unsicherheit über den Wachstumspfad nach der ersten Erholungsphase. Zweitens flackern die Spannungen zwischen China und den USA auf und könnten sich im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahlen im November noch verschärfen. Drittens ist die Wahl zu diesem Zeitpunkt schwierig einzuordnen. Ein Sieg der Demokraten würde vermutlich zu einem bedeutenden Richtungswechsel in der Politik und ein anderes Regulierungs- und Steuersystem führen.
Angesichts dieser Risiken haben wir in letzter Zeit jene Unternehmen reduziert, bei denen es keinen Sinn mehr zu machen scheint, grosse Wetten zu inzwischen erheblich höheren Preisen abzuschliessen - auch wenn ihre Wachstumsaussichten stabil bleiben. Neben den Aktien, von denen wir erwarten, dass sie als potenzielle Gewinner aus der Post-Corona-Wirtschaft hervorgehen werden, besteht unsere zweitgrösste Übergewichtung derzeit interessanterweise in Finanztiteln. Zu Beginn eines Aktienzyklus sind es oft die Titel aus den Bereichen Banken und Materialien (in denen wir ebenfalls übergewichtet sind), die ungeliebt sind, die aber später im Aufschwung gut abschneiden. Abgesehen von diesen Anpassungen ist dies nicht der richtige Zeitpunkt, um im Portfolio ganz in die Defensive zu gehen, da wir glauben, dass wir uns in der Frühphase eines neuen Aktienzyklus befinden.
Link zum Disclaimer
Scott Berg ist Portfolio Manager für die Global Growth Equity Strategy bei T. Rowe Price. Er erwarb einen MBA an der Stanford University Graduate School of Business. Seine Karriere in der Finanzdienstleistungsbranche begann er als Business Analyst bei McKinsey & Company. Danach arbeitete er als Manager bei MeadWestvaco, bevor er 2002 zu T. Rowe Price kam. Der von ihm verwaltete «T. Rowe Price Global Equity Fund» verfügt über ein AAA-Rating bei Citywire.