«Wir glauben, dass wir schon in einem neuen Bullenmarkt sind und es nach einer Pause oder einem Rücksetzer im Sommer weitergeht»

03.07.2020
Herr Fischer, an den Börsen ist ein bemerkenswertes erstes Halbjahr 2020 zu Ende gegangen. Was ist Ihr Resümee?
Ich glaube, das Jahr 2020 wird uns allen in Erinnerung bleiben, denn die sozialen und wirtschaftlichen Folgen werden uns noch lange beschäftigen. Die Weltwirtschaft ist ja nicht einfach in eine Krise abgeglitten, sondern es wurde ziemlich abrupt der «Stopp»-Knopf gedrückt. Wir sind vielleicht nicht mehr mit 120 km/h, aber doch mindestens mit 70 km/h vor die Wand gefahren. Das hat kurzfristige Folgen für die Unternehmen, die aber zum Teil durch die Liquiditätsmassnahmen der Notenbanken und die Kredite der Politik überbrückt werden können. Das ist aber nur der kurzfristige Teil der Auswirkungen; der, den man aktuell sieht und bewerten kann. Für die Zukunft wird entscheidend sein, welche langfristigen Auswirkungen auf die Geschäftsmodelle die Pandemie und ihre Begleiterscheinungen haben werden. Ein paar Beispiele: Es ist im Moment kaum vorstellbar, dass im Flugverkehr bald wieder die alten Zahlen erreicht werden. Auch die Diskussion darüber, ob globale Lieferketten noch zeitgemäss sind, wird langfristig einige Geschäftsmodelle beeinflussen. Gleichzeitig haben Anbieter von Cloud-Lösungen oder Konferenzsystemen gute Aussichten. Wir fokussieren uns neben diesen interessanten Geschäftsmodellen auf Unternehmen, die zudem gut geführt sind und auch nach der Krise ihre Marktposition zumindest behaupten können.
Die Stützungsmassnahmen der Notenbanken haben das Niedrigzinsumfeld weiter zementiert. Es gibt für renditeorientierte Anleger keine realistische Alternative zu Aktien. Auch die derzeit noch niedrigen Investitionsquoten der Anleger haben das Potenzial, die Kurse weiter zu stützen. Wir bei Shareholder Value Management investieren für unsere Investoren ökonomisch langfristig und nach ethischen Grundsätzen nachhaltig. So beteiligen wir sie an familiengeführten Unternehmen mit stabilen Geschäftsmodellen und nach einem kodifizierten Katalog von Ausschlusskriterien.
Wie geht es Ihrer Einschätzung nach weiter?
Die vielfältigen Problemfelder und deren Wechselwirkungen, die wir derzeit vor uns haben, machen eine weitere V-förmige Erholung kurzfristig unwahrscheinlich. Wir erwarten hier eher eine 80-Prozent-plus-Ökonomie. Ab 2021 wird ein darüber hinaus gehender Anstieg deutlich realistischer. Gleichzeitig stellen die Notenbanken durch ihre Politik auf absehbare Zeit weiter Munition in Form von Liquidität mittelbar für die Aktienmärkte bereit. Vergleicht man das Liquiditätsvolumen, dass wir aktuell haben mit dem der Finanzkrise von 2008, so ist dies derzeit rund viermal so gross. Das ist auch die Erklärung für die Erholung an den Aktienmärkten, die wir in den vergangenen Wochen gesehen haben. Einige Marktteilnehmer interpretieren diese Notenbankpolitik als einen regelrechten Wettstreit, der unter anderem in einer Abwertungsspirale der Währungen mündet. Nicht zuletzt deshalb profitiert derzeit Gold als eine nicht ausschliesslich auf Vertrauen aufbauende Währung von dem aktuellen internationalen Szenario.
Die Aktienmärkte haben den grössten Teil der Verluste wieder aufgeholt.
Das ist richtig, wir haben eine extreme Aufwärtsbewegung hinter uns. Aber diese hat den Markt nicht in der Breite erfasst. Im Dow Jones sind nur sechs von 30 Titeln seit Jahresanfang im Plus. Wenn immer weniger Titel entgegen dem übrigen Markt deutlich steigen, ist das möglicherweise ein Indiz für eine bevorstehende Marktschwäche, ein sogenanntes Hindenburg-Omen. Daher agieren wir derzeit besonders vorsichtig und wachsam. Wir schliessen eine weitere Korrektur im Sommer nicht aus. Was uns längerfristig optimistisch macht, ist der Umstand, dass unter den Anlegern trotz der Erholung noch keine Euphorie herrscht. Institutionelle Investoren sind von einer Untergewichtung auf eine neutrale Position eingeschwenkt. Auch Privatanleger sind noch nicht bullish. Sie werden irgendwann Angst haben, bei der nächsten Aufwärtsbewegung nicht dabei zu sein. Das alles bietet genug Pulver für weitere Investitionen. Hinzu kommen die Notenbanken. In den letzten Jahren ging eine Ausweitung der Geldmenge M2 immer mit einem Bullenmarkt einher. Von daher glauben wir, dass wir schon in einem neuen Bullenmarkt sind und es nach einer Pause oder einem Rücksetzer im Sommer weitergeht.
Was heisst das für Anleger? Worauf sollten sie achten?
Von der Erholung in den vergangenen Wochen waren bislang vor allem Growth-Werte betroffen. Zwar gibt es auch hier weiteres Potenzial, das fällt aber in den Bereichen, in denen die Bewertungen gedrückt sind, noch deutlich stärker aus. Und das ist vor allem der Bereich der Value-Aktien, die eine langjährige Underperformance gegenüber Growth-Werten aufweisen. Wenn die zyklische Komponente wieder positiv bewertet wird, werden auch wieder Mittel in Value-Aktien fliessen, weil hier das höchste Potenzial liegt.
Also das langersehnte Comeback von Value-Aktien?
Zumindest die Vorzeichen sind sehr gut und das Potenzial hoch. Trotzdem kommt es auch hier auf eine sehr selektive Auswahl an, denn es wird auch klare Verlierer der Krise geben. Wir vereinen in unseren Fonds verschiedene Ausprägungen des «Value Investing». Neben dem klassischen Value nach Benjamin Graham, bei dem vor allem die Bewertung einer Aktie ausschlaggebend ist, nutzen wir verstärkt eine «Modern Value»-Philosophie. Sie weicht in einigen Punkten von der «reinen Lehre» des klassischen Graham-Value ab. Hier ist nicht die Bewertung einer Aktie allein entscheidend, sondern der Ertrag, den ich als Investor im Gegenzug dafür kriege. Dieser Ertrag, der Total Shareholder Return, kommt in Form von Dividenden, Aktienrückkäufen, Wachstum und Rendite auf investiertes Kapital (ROIC). Die erweiterte «Modern Value»-Betrachtungsweise ermöglicht im Unterschied zur klassischen Value-Philosophie Grahams auch die Investition in Unternehmen mit einer höheren Bewertung, wenn die Kombination aus guten und sehr sicheren Wachstumsperspektiven und hohen erwarteten ROICs diese rechtfertigt. Auf diese Weise sichern wir uns das langfristige Wachstumspotenzial.
A propos Wachstum. Wirecard galt lange als deutsche Wachstumshoffnung im Fintech-Bereich. Auch bei Ihnen?
Natürlich haben wir uns Wirecard angeschaut. Aber das Unternehmen kam schon lange vor den ersten Vorwürfen, die in der «Financial Times» erhoben wurden, auf unsere «Rote Liste». Es gibt eine Value-Kolumne aus dem Jahr 2008, in der dieses Thema erstmals diskutiert wird. Wir verstehen uns bei den Unternehmen, in die wir investieren, als Miteigentümer und müssen uns in dieser Rolle auch wohlfühlen. Das war bei Wirecard nie der Fall. Auch Zahlungsabwicklungen für Glücksspiel und Porno widersprechen unseren ethischen Ausschlusskriterien. Genau diese Ereignisse zeigen die Bedeutung eines aktiven Managementansatzes im Gegensatz zu passiven ETFs. Wir sind nicht aufgrund externer Vorgaben gezwungen, Aktien zu halten, nur weil sie aufgrund der Marktkapitalisierung im Index vertreten sind.
Link zum Disclaimer
Frank Fischer ist Chief Executive Officer (CEO) und Chief Investment Officer (CIO) der Shareholder Value Management AG sowie Berater des «Frankfurter Aktienfonds für Stiftungen». Der 56-jährige ist überzeugter Value-Investor.