«Wir sehen an europäischen Kapitalmärkten eine Reihe von Fehlbewertungen»

16.02.2018
Herr Ali, die Kurse vieler europäischer Aktien konnten im letzten Jahr deutlich zulegen. Haben Investoren diesen starken Trend mehrheitlich verpasst?
Das glauben wir nicht. Obwohl europäische Aktien im vergangenen Jahr deutlich zugelegt haben, liegt der Zuwachs hinter anderen Regionen. Europäische Aktien werden als attraktiv gesehen, besonders wenn man die sich verbessernde ökonomische Situation und die sinkenden politischen Risiken in Betracht zieht. Für die Eurozone sehen wir ein Wachstum des BIP von über 2 Prozent und von Firmen im MSCI Europe Index erwarten wir ein zweistelliges Gewinnwachstum. Europäische Aktien wurden Ende 2017 mit einem Preis/Gewinn-Verhältnis von 15x gehandelt, das ist ein Abschlag von rund 20 Prozent gegenüber den USA.
Ihr Ratschlag für Späteinsteiger: Wo lassen sich noch attraktive Investitionsmöglichkeiten finden?
Wir sehen an den europäischen Kapitalmärkten eine ganze Reihe von Fehlbewertungen. Zum Beispiel gibt es immer noch eine Präferenz für Aktien mit niedrigem Beta, diese gelten als «weniger riskant» im Gegensatz zu risikoreicheren Aktien mit hohem Beta. Wir sehen eine grosse Bewertungslücke zwischen diesen beiden Aktiengruppen, was die vergleichbaren Spreads in anderen Regionen in den Schatten stellt. Dies mag ein Überbleibsel aus der Euroraum-Schuldenkrise von 2010 bis 2012 sein und spiegelt unserer Ansicht nach nicht die aktuelle Situation wider. Wir sehen die potenziellen politischen Risiken eher ausserhalb der Region.
Wir glauben, dass Stock-Picker diese anhaltenden Fehlbewertungen zum Vorteil nutzen können. Wenn man sorgfältige Branchen- und Unternehmensanalysen betreibt, kann man Kandidaten finden, die besser dastehen als allgemein angenommen. Wir suchen also nach den Unternehmen mit einem vom Markt unterschätzten Renditepotenzial über Branchen und Länder hinweg.
Sie suchen nach unterbewerteten Unternehmen. Wie gehen Sie dabei vor - können Sie uns Ihr Geheimnis etwas lüften?
Unsere Analysten sind Branchenexperten mit Erfahrung aus den Industrien. Die kennen sich der der Sparte bestens aus und können sie besser über die Schlagzeilen hinwegsehen. Nehmen Sie die spanische CaixaBank als Beispiel. Diese hat unter der Assoziation mit dem Standort Barcelona gelitten, als Kataloniens Unabhängigkeitsbewegung gross in der Presse stand. Wir glauben jedoch, dass das Geschäft und grosse Einzelhandelsnetz der CaixaBank ziemlich widerstandsfähig sind und wenig mit der lokalen Politik zu tun haben. Dank der sich erholenden spanischen Wirtschaft sieht die Bank eine Verbesserung ihrer Kreditqualität, Finanzierungskosten und stabilisierende Margen.
Ein weiteres Beispiel ist Airbus, das eine Unternehmenstransformation hinter sich hat. Die leiden unter dem Ruf von vier europäischen Regierungen geführt zu werden, obwohl dies nicht mehr der Fall ist. Airbus wird mit 20 bis 30 Discount gegenüber Boeing gehandelt, obwohl es vergleichbare Gewinnkennzahlen, Produkte mit ähnlichen Cash-Margen hat und ähnlichen Marktkräften unterliegt. Wir denken, dies hat mehr mit den Produktzyklen zu tun als mit einer grundlegenden Schwäche von Airbus. Das Airbus A350-Langstreckenflugzeug konkurriert mit dem Boeing 787 Dreamliner. Boeing ist in seinem Produktzyklus mehrere Jahre vor Airbus, was bedeutet, dass Airbus nach wie vor stark in den Bau der Jets investiert, während sich die Preisgestaltung noch nicht stabilisiert hat. Diese Faktoren haben den Cashflow von Airbus im Vergleich zu Boeing verringert, könnten sich aber ändern, wenn der Produktzyklus von Airbus beginnt aufzuholen.
Auch, wenn politische Ereignisse in aller Regel nur einen kurzfristigen Einfluss auf die Märkte haben - wenn überhaupt, bereiten Ihnen die anstehenden Wahlen in Italien Sorge?
Ziel unseres Risikomanagements ist es, die Auswirkungen von Makrofaktoren auf unser Portfolio zu neutralisieren. Politische Unsicherheiten wie die bevorstehenden Wahlen in Italien können manchen Anlegern Angst machen, aber oft ist es viel besser, die Schlagzeilen zu ignorieren und nach Unternehmen zu suchen, die über ein auskömmliches Renditepotenzial verfügen. Politische Risiken oder Ereignisse können nicht völlig ignoriert werden, aber verschiedene Aktien sind nicht auf gleiche Weise betroffen. Einige, wie etwa Banken in Ländern mit einer grösseren Staatsverschuldung, reagieren sehr sensibel auf die Innenpolitik. Andere sind «Global Player», die von positiven Trends aus der ganzen Welt profitieren. Die Beurteilung des politischen Risikos muss bei jeder Anlageentscheidung berücksichtigt werden. Anleger können kurzfristige politische Risiken entschärfen, indem sie sich auf ausgewählte Unternehmen konzentrieren, die für ihren langfristigen Erfolg nicht auf regionale Stabilität angewiesen sind.
Tawhid Ali wurde im Frühjahr 2016 zum Portfoliomanager für globale und internationale Value-Aktien ernannt und ist seit Mai 2016 auch Portfoliomanager für Global Research Insights. Seit 2012 ist er Chief Investment Officer (CIO) von European Value Equities und wurde Director der Division Research im Jahr 2008. Ali war zuvor Research Analyst für Einzelhandels- und Freizeitunternehmen in Europa. Bevor er 2003 zu AllianceBernstein kam, arbeitete er für McKinsey in New York und London als Engagement Manager. Tawhid Ali hat einen AB von der Harvard University und einen MBA von der University of Chicago.